Neue Perspektiven für die Tataren
Bis heute können die Tataren das heilige Buch der Christen mit dem Alten Testament nicht in ihrer Sprache lesen. Dies hat historische Gründe: Die Tataren an der Wolga, 1000 km östlich von Moskau, haben sich in ihrer wechselvollen Geschichte gegen das übermächtige russische Nachbarvolk gewehrt. Auch religiös: Nur eine verschwindende Minderheit des Turkvolks liess sich orthodox taufen. 2015 soll endlich die tatarische Bibel erscheinen. Die Initianten hoffen und beten für eine freundliche Aufnahme des Werks. In der westorientierten tatarischen Hauptstadt Kasan haben die Muslime Russlands ihr Zentrum.
Vor der Zielgeraden
Die Herausgabe der ersten Bibel für das Sechs-Millionen-Volk geht in die Endphase. In diesem Jahr will das Team des Moskauer Instituts für Bibelübersetzung (IBÜ) die Übersetzung der Bücher abschliessen. Ein Sprachwissenschaftler prüft den Text; zudem wird eine Person für eine stilistische Durchsicht gesucht. Zu den Arbeiten gehört eine Revision des Neuen Testaments (NT) von 2001. Unter anderem werden die alttestamentlichen Zitate im NT mit den Formulierungen im Alten Testament abgestimmt und Schlüsselbegriffe vereinheitlicht. Nicht zu unterschätzen ist der Aufwand für das Vorwort, die Einleitungen zu den einzelnen Büchern und geographische Karten.
Die IBÜ-Leiterin, die Schweizerin Dr. Marianne Beerle, plant den Druck für 2015. Aus der Schweiz beteiligt sich «Licht im Osten» (LIO) mit namhaften Beiträgen am Projekt. Am LIO-Jahresfest am 21. Oktober in Bern und am 27. Oktober in Winterthur wird Marianne Beerle über die Arbeiten informieren.
Vom Minderheiten-Testament zur Volksbibel
Nach der Eroberung Russlands durch die Mongolen im 13. Jahrhundert bildeten Tataren, die Christen geworden waren, eine neue ethnisch-religiöse Gruppe. Sie nannten sich Kryaschen, nach dem russischen Wort für Taufe. Die Kryaschen hatten keine Bibel in ihrer Muttersprache. Erst im Jahr 2001 erhielten sie das Neue Testament. Darin wurde die islamische Terminologie sorgfältig vermieden und durch russische Lehnwörter oder alte, vortatarische Ausdrücke ersetzt.
Missverständnisse vermeiden
Wenn dies für eine isolierte Volksgruppe gut ist, so passt der Text doch nicht, um von der gesamten tatarischen Bevölkerung gelesen und verstanden zu werden. Die Übersetzer standen daher vor der Herausforderung, für die in der tatarischen Kultur untypischen Begriffe passende Ausdrücke zu finden. Das Wort, das für Christus gewählt wurde, macht jedem tatarischen Leser klar, dass es sich um den Messias handelt – und nicht um den Namen des russischen Gottes. «Taufe» bedeutet «Eintauchen» und ist nicht mehr ein Fluchwort, zu dem das russische Wort für Taufe in der modernen tatarischen Sprache geworden ist.
Auch für Musliminnen eine Kostbarkeit
Die IBT-Übersetzerin hat Texte tatarischen Freundinnen zum Lesen gegeben. Diese Frauen, in der atheistischen Sowjetkultur aufgewachsen, seien inzwischen fromme Muslimas geworden, erzählt sie. Die Weitergabe der Bibeltexte war nicht ohne Risiko, da manche Muslime fürchten, sich durch die Annahme eines christlichen Buches zu verunreinigen. «Mein Wunsch, mit ihnen diese Übersetzung zu teilen, war aber stärker, und mit grösster Vorsicht gab ich sie ihnen zum Lesen. Meine Überraschung war gross, als sie die Übersetzungen als ein überaus kostbares Geschenk annahmen. Sie meinten, dass dieses Geschenk auch für die Muslime ein heiliger Text ist.»
Datum: 05.09.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet