Wer überbrückt den digitalen Graben?

Graben

Informiert sein und sich informieren können, ist schon fast ein Menschenrecht. Der erste UNO-Gipfel zur Informationsgesellschaft in Genf vom 10. bis 13. Dezember 2003 strebt deshalb eine „gerechte Informationsgesellschaft“ an, an der alle Menschen teilhaben können. Daran müssten gerade auch Christen ein Interesse haben. Der Vorbereitungsprozess auf den Gipfel zeigt jedoch, dass die Umsetzung dieser Vision an wirtschaftlichen Interessen von Industrienationen und Grosskonzernen zu scheitern droht.

Wir surfen im Internet und greifen selbstverständlich zum Mobiltelefon: Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICTs) haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt. Ausgebreitet hingegen haben sie sich keineswegs überall. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat heute keinen Zugang zu den neuen Technologien.

Besonders in den Entwicklungsländern fehlt es grundlegend an Infrastruktur dafür – das fängt vielerorts bereits bei der Stromversorgung an – und an elektronischen Kenntnissen. Mit anderen Worten: Eine „digitale Kluft“ („digital gap“) trennt die Länder des Nordens und des Südens voneinander und spaltet die Weltbevölkerung in Menschen, die am Kommunikationsnetzwerk teilhaben, und solche, die davon ausgeschlossen sind.

Erstes internationales Treffen

Die neuen Technologien bringen also ganz neue Herausforderungen und Probleme mit sich. Diesen will sich der erste UNO-Weltgipfel über die Informationsgesellschaft stellen. Der erste Teil des auf Englisch genannten „World Summit on the Information Society“ (WSIS) findet vom 10. bis 12. Dezember 2003 in Genf statt. Der zweite Teil ist vom 16. bis 18. November 2005 im nordafrikanischen Tunis geplant.

In Genf treffen sich mehrere tausend Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, Privatsektor (Wirtschaft) und Zivilgesellschaft (Nichtregierungsorganisationen und andere non-Profit-Organisationen wie Menschenrechtsgruppen, Umweltverbände). Als konkrete Resultate sollen sie eine politische Erklärung und einen Aktionsplan verabschieden. Letzterer listet zahlreiche Aktivitäten auf, mit denen längerfristig nichts weniger verwirklicht werden soll als eine Informationsgesellschaft, an der alle Menschen gleichberechtigt beteiligt sind – unabhängig von sozialer Schicht, Kultur und Geschlecht. Zu den geplanten Aktivitäten gehört etwa, dass bereits bis im Jahr 2015 möglichst alle Länder und Dörfer, Spitäler und Universitäten an die neuen Technologien angeschlossen sein sollen.

Wirtschaft und Technik im Vordergrund

Doch die konkrete Umsetzung der Vision gestaltet sich schwierig. In den letzten rund eineinhalb Jahren fanden drei grosse Vorbereitungstreffen statt. Das letzte Ende September. Ernüchterndes Resultat: Weder bei der politischen Erklärung noch beim Aktionsplan, die entworfen werden sollten, wurde ein gemeinsamer Nenner gefunden. Dies zeigt: Die ICTs sind keineswegs ein unumstrittenes Gut zum Wohl der Menschheit, sondern vor allem auch Spielball verschiedenartiger Interessen.

„Wirtschaftliche und technologische Interessen stehen sozialen und ethischen gegenüber“ erklärt Urs A. Jaeggi, Informationsbeauftragter der evangelischen Entwicklungsorganisation „Brot für alle“. Er kritisiert, dass sozial und entwicklungspolitische Themen auf der Traktandenliste des Gipfels in den Hintergrund gerieten, wie etwa der Ausbau der Infrastruktur für die ICTs oder die Ausbildung der Bevölkerung zur Handhabung der Technologien. Dominierend seien technologische und vor allem wirtschaftliche Fragen – Stichworte sind „Netzsicherheit“ und die elektronische Vermarktung von Waren („e-commerce“). Grund: Industrienationen wie die USA und grosse Telekommunikationskonzerne seien bemüht, die bestehenden Machtverhältnisse im Informations- und Kommunikationsbereich zu zementieren, so Jaeggi.

Weiter setzt sich „Brot für alle“ dafür ein, dass am WSIS nicht nur über die neuen Informationstechnologien gesprochen wird, sondern auch herkömmliche Medien. Die so genannten „Gemeinschaftsmedien“ („community medias“) wie etwa Gemeinschaftsradios, sind in Entwicklungsländern für Informationsvermittlung und -austausch besonders wichtig.

Zivilgesellschaft: Schwerer Stand

Doch nicht nur soziale und ethische Themen wurden verdrängt. Auch die Zivilgesellschaften selbst wurden nach und nach aus den Entscheidungsprozessen des Gipfels ausgeschlossen. Anstatt gleichberechtigt mitentscheiden zu können, wird ihnen in Genf lediglich beratende Funktion zugestanden: Die Dreierpartnerschaft Regierung – Privatsektor – Zivilgesellschaft, die zum ersten Mal an einem UNO-Gipfel realisiert werden sollte, ist grundlegend in Frage gestellt.

Datum: 17.10.2003

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