„Das Sterben leben“ – von Fall zu Fall?

Das Sterben leben
Frank Mathwig

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) hat sich in die laufende Sterbehilfe-Debatte eingemischt. Er fordert einen Rechtsanspruch auf lindernde Pflege für Schwerkranke und Sterbende und spricht sich gegen ein Recht auf Suizidbeihilfe aus.

Der Kirchenbund kritisierte am Donnerstag vor den Medien die Praktiken der Organisation Dignitas. Thomas Wipf, Präsident des SEK-Rates, sprach von «scheinbar umherirrenden Sterbewilligen, vor allem aus dem Ausland, zwischen Hotelzimmern, Gewerbegebieten und einsamen Parkplätzen».

Seelsorge ohne Urteil

In einem 40-seitigen Papier, mitten in der Dignitas-Debatte, plädiert der SEK für eine Versachlichung: Die drei zentralen Aspekte Lebensschutz, Fürsorge und Selbstbestimmung sollten gleiche Geltung haben und in der Einzelsituation eigens abgewogen werden. Doch tritt der SEK nicht für ein Verbot der Suizidbeihilfe ein. Entscheide sich jemand dafür, sich selbst zu töten, so gehöre es sich für christliche Seelsorge nicht, diesen Schritt «moralisch zu beurteilen, zu kritisieren oder zu legitimieren», sagte Thomas Wipf, Präsident des SEK-Rates, am Donnerstag in Bern.

Leidende und Sterbende „in den Alltag hineinnehmen“

Frank Mathwig, SEK-Beauftragter für Ethik, hat das Papier «Das Sterben leben. Entscheidungen am Lebensende aus evangelischer Perspektive» verfasst. Darin stellt er auch die Frage, welche Aufgaben und Verpflichtungen die Gesellschaft gegenüber Kranken, Leidenden und Sterbenden hat. Für den Kirchenbund geht es darum, sterbende und sterbewillige Menschen in unser alltägliches Leben hinein zu nehmen. Ihre Bedürfnisse und Wünsche, ihr Schmerz und ihre Sehnsucht nach Erlösung müssten auf offene Ohren, auf unsere Solidarität und Unterstützung treffen, schreibt der SEK in seiner Pressemitteilung. „Leben und Sterben, diese existentiellen Grundfragen und die seelsorgerliche Begleitung von Menschen in jeder Lebenssituation sind Kernanliegen und Kernkompetenzen der Kirche.“

Recht auf Palliative Care

Der SEK fordert einen substanziellen Ausbau der Palliative Care. Sie beinhaltet eine umfassende Behandlung und Betreuung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und chronisch fortschreitenden Krankheiten. Die Praxis zeigt gemäss SEK, „dass eine menschlich und medizinisch sorgfältige Begleitung von sterbenskranken Menschen vielen die Angst vor dem Sterben nehmen kann“. Durch eine gute Palliativbetreuung lasse der Suizidwunsch oft nach. „Sollte aber ein Mensch keinen anderen Ausweg aus Krankheit und Verzweiflung sehen, so ist es nicht an uns, über diesen Menschen moralisch zu urteilen.“ Denn: „Es ist nicht möglich, allgemeingültige Regeln aufzustellen, die allen Situationen von Schmerz, Leiden und Verzweiflung gerecht werden.“

Druck auf Nahestehende vermeiden

Vor der Presse sagte Mathwig, es dürfe kein Recht auf Suizidbeihilfe geben. Denn ein solches Recht würde auch eine Pflicht, Beihilfe zum Suizid zu leisten, fordern. Dies sei unvereinbar mit den Freiheits- und Persönlichkeitsrechten: Niemand darf gezwungen werden, jemandem bei der Selbsttötung behilflich zu sein. Der assistierte Suizid darf nicht normal werden: «Aus christlicher Perspektive steht der Mensch als Geschöpf Gottes unter dem besonderen Schutz seines Schöpfers.» Der SEK fordert klare und verbindliche rechtliche Regeln für organisierte Suizidbeihilfe, damit ein „würdevoller und gesellschaftlich verantwortungsvoller Umgang“ mit sterbewilligen Menschen gewährleistet ist.

Dignitas darf in Gewerbeliegenschaft Gift reichen

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hat Dignitas erlaubt, in einer Gewerbeliegenschaft in einer Industriezone von Schwerzenbach bei Zürich Freitodbegleitungen bis auf weiteres durchzuführen. Laut der Urteilsbegründung, die am Freitag bekannt wurde, ist bei Gewerberäumen anders als bei Wohnungen schon fraglich, ob die regelmässige Durchführung von Freitodbegleitungen überhaupt eine bewilligungspflichtige Nutzungsänderung darstellt. Die zweite Beschwerde, mit der Dignitas das einstweilige Nutzungsverbot für eine Wohnliegenschaft in Maur angefochten hatte, wurde abgewiesen.

Zur Absicht des Dignitas-Leiters Ludwig A. Minelli, auch in Deutschland Freitodbegleitungen durchzuführen, äusserten sich die Vertreter des Kirchenbundes skeptisch. «Ich sehe keine Möglichkeit, wie Herr Minelli seinen Service auch in der Bundesrepublik anbieten kann», sagte Mathwig. Die Rechtsordnung in Deutschland lasse eine Freitodbegleitung nicht zu.

Mehr als die Hälfte der angeblich 453 Personen, die sich seit 1998 mit Dignitas umbrachten, sollen aus Deutschland in die Schweiz gereist sein.

Dignitas-Verbot in Deutschland?

Die Kirchenbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ingrid Fischbach, hat sich am Montag scharf gegen die Pläne der Schweizer Organisation gewandt, Sterbehilfe jetzt auch in Deutschland zu leisten. Sie zeigten, wie notwendig die Forderung nach einem Verbot sei. Der Vorstoss von Minelli sei ungeheuerlich. Das Vorgehen von Dignitas stehe allen Bemühungen um ein menschenwürdiges Sterben entgegen. «Was wir brauchen, ist nicht eine Tötung von sterbewilligen Personen, wie sie Dignitas praktiziert, sondern eine Sterbebegleitung, die diesen Namen auch verdient», sagte Fischbach.

Auch der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, hat ein Verbot der geschäftsmässigen Beihilfe zur Selbsttötung gefordert. Die «provokanten Spiele mit dem kalkulierten Rechtsbruch» der Sterbehilfe-Organisation Dignitas müssten unterbunden werden, sagte der Vorsitzende des Verbandes der Krankenhausärzte im Deutschlandradio Kultur. Kommerzielle Beihilfe zur Selbsttötung müsse ein Straftatbestand werden.

Scharfe Insider-Kritik an Exit

In der Neuen Zürcher Zeitung hat Andreas Blum, der bisherige Sprecher der grössten Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit, die Gründe für seinen Rücktritt aus dem Vorstand erläutert. Blum kritisiert Exit heftig: «Das Freitodbegleitungsteam ist sich selbst Gesetz.» Die Abgrenzung gegenüber Dignitas halte man in der Praxis gar nicht durch (Exit nimmt auf ihrer Homepage „gegenüber Gesuchen aus dem Ausland eine ablehnende Haltung ein“). Die verantwortbare Zahl von Sterbebegleitungen werde von einzelnen Sterbehelfern immer wieder missachtet, sagt Blum. Er prangert an, dass Exit-Exponenten sogar den rezeptfreien Zugang zum tödlichen Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital fordern, obwohl das Bundesgericht dies untersagt hat.

Links zum Thema:
SEK-Positionspapier «Das Sterben leben – Entscheidungen am Lebensende aus evangelischer Perspektive» als PDF
Frank Mathwig zur Sterbehilfe auf Radio DRS 1
Katholisches Dossier mit einem Vortrag von Bischof Kurt Koch zum Lebensende

Andreas Blum kritisiert Exit

Quelle: Livenet / SEK, NZZ, epd

Datum: 24.11.2007
Autor: Peter Schmid

Werbung
Livenet Service
Werbung