Schatten der Vergangenheit: Die eigene Geschichte annehmen

Jürgen Werth
Gehender Mann
Fotoapparat

Wer bin ich? Es gibt keine schnelle Antwort auf diese Frage, auch nicht auf die andere, noch weitergehende Frage: «Habe ich selbst eigentlich in der Hand, wer ich bin und wer ich werde?»

Ich bin mein Name – ein Name, den ich mir nicht selber ausgesucht habe und auch nur mit dem nötigen Kleingeld ändern lassen könnte. Ich bin auch meine Figur: 1,90 oder 1,50 Meter, lang und schlank oder klein und pummelig. Ich bin mein Gesicht, meine Nase, meine Augen, mein Mund, meine Ohren. Ich bin meine Art zu sprechen, meine Art zu lachen, meine Art, die Welt zu sehen und zu verstehen. Ich bin meine Art, auf andere zuzugehen. Ich bin meine Seelenlage. Ich bin meine Gaben und Grenzen. Aber ich bin noch mehr, viel mehr. Ich bin auch meine Eltern und Grosseltern, meine Geschwister und Freunde. Menschen (Freunde, Freundinnen, Erzieher, Lehrer, Jugendleiter, Pastoren) haben Spuren hinterlassen in meinem Leben, haben mich geformt und geprägt, haben mich beschenkt und verletzt.

Krieg mit mir selbst?

Habe ich eigentlich selbst in der Hand, wer ich bin und wer ich werde?» Entwicklungspsychologen behaupten, dass die entscheidenden Grunddaten einer Persönlichkeit bis zum Alter von rund sieben Jahren festgelegt sind. Das ist eine Herausforderung, eine echte Herausforderung. Und so lebt mancher in einem 30-jährigen Krieg mit sich selbst, will anders sein, als er ist, und schafft es nicht. Doch Frieden ist möglich. Die Schlüsselwörter heissen: Annehmen und Ja sagen.

Folgendes kann dabei helfen: Höre auf, dich anders zu träumen, als du es bist! Höre auf, dir zu wünschen, was du nicht hast! Fange an, dich an deinen Gaben und Grenzen zu freuen! So wie du bist, bist du einmalig – eine einzigartige Komposition unseres Gottes. Sag ja zu dir! Nimm dich an! Du bist du!

Ich bin meine Geschichte. Ich bin die Falten und Narben in meinem Gesicht und in meiner Seele. Wie gerne würde ich die Geschichte in meinem Leben redigieren. Wie gerne würde ich sie umschreiben, herausstreichen, was mich verletzt hat, hineinschreiben, was mir gut getan hätte. Aber diese Geschichte steht fest. Ich kann sie nicht verändern.

Ich, der Friedensstifter

Als ich 16 war, begann mein Vater zu trinken. Immer öfter kam er spät nach Hause. Und immer häufiger brachte er mehr Flaschen mit. Es gab Erklärungen – rein äusserliche: Direkt neben der Garage, in der er seinen Wagen parkte, stand ein kleiner Kiosk. Da standen immer ein paar Leute, mit denen man ein bisschen reden und ein bisschen trinken konnte. Es gab auch tiefer gehende Erklärungen: Der Druck in der Firma, in der er als Verkaufsberater arbeitete, hatte enorm zugenommen. Die Umsatzerwartungen stiegen von Jahr zu Jahr. Immer häufiger gab es Streit zu Hause, handfeste Auseinandersetzungen. Immer häufiger fühlte ich mich verpflichtet, einzugreifen, zu schlichten.

«Das geht so nicht weiter!», sagte ich eines Tages zu einem guten Freund. Dieser gute Freund hatte einen Vater, der Pastor war. «Deine Eltern brauchen Beziehungen», sagte mein Freund. «Und in der Gemeinde meines Vaters gibt es dazu jede Menge Gelegenheit.» So brachten wir meine Eltern mit seinem Vater in Kontakt. Das gelang, man verstand sich erstaunlich gut, und es folgte eine Reihe tiefer Gespräche über das Leben und den Glauben. Trotzdem trank mein Vater weiter, und die Spannung zu Hause wurde noch grösser, weil allen Beteiligten klar war, dass sich dringend etwas ändern musste.

Der Druck nahm auch zu, weil ich heiraten wollte. Zwischen mir und meiner Verlobten war alles klar, und ich wollte weg von zu Hause. Aber würde ich weg können – ich, der Friedensstifter in der Familie, der Vermittler und Verbindende? Und so begannen wir zu beten, meine Verlobte, mein Freund und ich, dass meine Eltern doch bitte zum Glauben kommen sollten, bevor die Hochzeitsglocken läuteten. Und das Wunder geschah! Eine Woche bevor wir heirateten, entschieden sich meine Eltern bewusst für ein Leben mit Jesus Christus. Das Alkoholproblem war damit jedoch noch lange nicht gelöst. Tatsächlich ging es noch rund acht Jahre weiter. In den ersten Monaten bin ich immer wieder von unserer neuen Wohnung zu meinen Eltern gefahren, um einzugreifen und zu schlichten. Am Ende aber, ganz am Ende, kam mein Vater mit seinem Leben zurecht, wurde er frei von der Alkoholsucht und konnte in Frieden «heimgehen».

Oft haben wir in unserer Familie über diese Geschichte gesprochen. Eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, eine Geschichte der Ungeduld, eine Geschichte der Barmherzigkeit Gottes – und ganz tief meine Geschichte. Sie hat mich früh erwachsen werden lassen. Sie hat mich aber auch zu einem Menschen geformt, der Kräche und Konflikte nur schwer ertragen kann, der immer in Bereitschaft ist, wenn zwei zornig aufeinander losgehen.

Geduld Gottes kennen gelernt

Diese Geschichte hat mein Bild von Gott geprägt. Ich habe die unendliche Geduld Gottes kennen gelernt und hautnah erfahren, dass er wirklich auf krummen Linien gerade schreiben kann, dass seine Liebe wirklich immer grösser ist als unser Versagen. Ich habe gesehen, wie mein Vater gekämpft und gelitten hat und wie er immer wieder einen neuen Anfang gewagt hat. Ich habe mit ihm gelitten und gekämpft und habe entdeckt, dass auch er nicht mehr und nicht weniger ist als seine Geschichte. Er hatte sich in seinem Elternhaus nie richtig angenommen gefühlt. Auch sein Vater war Alkoholiker gewesen. Der Mutter fiel es schwer, ihrem Sohn Liebe und Geborgenheit zu vermitteln. Doch auch sie war ihre Geschichte. Mein Vater war seine Geschichte und ich bin meine Geschichte. Aber über allem, in allem und um alles herum schreibt Gott seine Geschichte: eine Geschichte der Liebe, der Barmherzigkeit und der Vergebung.

Wie oft habe ich mir eine andere Geschichte gewünscht: weniger Verletzungen, weniger Verwundungen, weniger Narben auf der Seele. Aber ich bin meine Geschichte. Ich bin der Weg, den Gott mit mir geht. Zu diesem Weg darf ich ja sagen. Diesen Weg muss ich annehmen, wenn ich Frieden will mit mir selbst, mit anderen Menschen und letztlich auch mit Gott.

Vergeben

So etwas lässt sich leicht in einem steilen Satz formulieren. Es zu tun, es immer wieder zu tun, ist häufig ein langer schmerzhafter Prozess. Zu einem solchen Prozess gehört auch, den Menschen zu vergeben, die mich verletzt haben. Das folgende Gebet habe nicht ich geschrieben, sondern ich habe es vor ein paar Jahren entdeckt: «Mein Herr und mein Gott, ich möchte jetzt in der Kraft deines Heiligen Geistes jedem vergeben, der mich in meinem Leben angegriffen oder verletzt hat. Ich bitte dich, dringe jetzt ein in die Bereiche meines Lebens und meines Geistes, die noch nicht von deiner Vergebungskraft erfüllt sind. In deiner Kraft, Herr, vergebe ich meiner Mutter jede einzelne Verletzung, die sie mir zugefügt hat; ihre Empfindlichkeit, ihren Ärger über mich; jede einzelne Strafe, die sie mir ungerecht auferlegt hat. Ich vergebe ihr, dass sie meinen Bruder, meine Schwester vorgezogen hat, dass sie mir gesagt hat, ich sei dumm, widerwärtig, unerzogen, dass ich nichts tauge, dass ich die Familie viel Geld koste. Ich vergebe ihr, dass sie zu meinem Vater kein gutes Verhältnis hatte und in mir ihr Gegenüber gesucht hat, so dass ich mich nie frei entfalten konnte; nicht ich selbst sein durfte.

Ich vergebe meinem Vater, der nie Zeit für mich hatte, dass ich nie seine Liebe und Zuwendung spüren konnte. Ich vergebe ihm, dass er mich nur korrigiert, mir aber nicht geholfen hat; dass er übermässige Leistungen von mir erwartete, ohne mich wirklich zu bejahen. Ich vergebe ihm, dass er mich in meiner Reifezeit nicht begleitet, nicht die Auseinandersetzung zugelassen hat, an der ich hätte wachsen können. Ich vergebe ihm die Streitereien mit meiner Mutter, die mich erschreckt und verwundet haben, dass er meine Mutter im Stich gelassen hat und nicht oft zu Hause war. Ich vergebe meinem Vater, dass ich zu dir, meinem Gott, lange Zeit nicht Vater sagen konnte. Ich vergebe allen, die stärker waren als ich, die mich unterdrückt und geschlagen haben. Ich bitte dich, Gott, um die Gnade, jener Person zu vergeben, die mich in meinem Leben am meisten verletzt hat; lass mich wirklich vergeben. Vollende in mir, was du begonnen hast. Erlöse mich von dem Bösen und heile mich.»

Das Gute sehen

In ein solches Gebet müssen Sie Ihre eigenen Verletzungen und Verwundungen einfüllen. Es wird nicht immer gleich gelingen. Aber es gehört zum Heilungsprozess dazu; gehört dazu, wenn man lernen will, die eigene Geschichte anzunehmen.

Dazu gehört sicherlich auch noch etwas anderes. Vielleicht setzen Sie sich einmal in einer stillen Stunde hin und schreiben auf, was eine bestimmte Geschichte mit Ihnen gemacht hat. Schreiben Sie auf ein Blatt Papier die Narben, die Sie zurückbehalten haben, die Ängste und Selbstzweifel, die diese Geschichte bei Ihnen hinterlassen hat. Lassen Sie jeden Gedanken zu. Aber dann schreiben Sie auf ein zweites Blatt, was Sie gelernt haben durch diese Geschichte, was sie auch Gutes bewirkt hat in Ihrem Leben. Ein paar Bereiche habe ich eben schon skizziert, als ich Ihnen ein wenig aus meiner Geschichte erzählt habe. Vielleicht sind Sie verständnisvoller geworden, vielleicht illusionsloser, vielleicht hörfähiger.

Nehmen Sie sich Zeit. Schreiben Sie auf, was Ihre Lebensgeschichte Schlimmes, aber auch Gutes bei Ihnen angerichtet hat. Und dann besprechen Sie das, was Sie aufgeschrieben haben, mit Gott. Jesus Christus wird auch «der Heiland» genannt. Er ist derjenige, der Zerbrochenes heil machen kann. Niemand ist zu schlecht für ihn, niemand zu schmutzig. Ihre Geschichte trennt Sie nicht von ihm, vielmehr möchte er Sie mitsamt Ihrer Geschichte berühren, in den Arm nehmen und heil machen.

Als Jesus auf dieser Erde war, hat er sich vor allem um die Ausgestossenen, die Ausgegrenzten, die Ausgesetzten bemüht. Er hat Aussätzige berührt, Menschen, um die andere einen weiten Bogen machten. Er nimmt jeden Menschen an mitsamt seiner Geschichte. Wer angenommen ist, kann auch sich selbst annehmen, kann ja sagen – vielleicht unter Tränen.

Oft ist es gut, wenn man sich nicht alleine auf einen solchen Weg begibt. Nicht selten braucht man einen Menschen an der Seite, der wärmt und tröstet; der Zusammenhänge erkennt und der immer wieder hilft, den Blick auf den Heiland Jesus Christus zu richten. Dies kann ein Freund, eine Freundin, ein Seelsorger oder ein Therapeut sein. Ich wünsche mir, immer wieder ja sagen zu können zu meiner Geschichte. Denn sie gehört zur Unverwechselbarkeit meines Lebens.

Jürgen Werth ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er ist Direktor einer christlichen Radio- und Fernseh-Anstalt (ERF) in D-Wetzlar; Liedermacher und Buchautor. Jürgen Werth hat das autobiografisch ausgerichtete Buch «Das Leben ist eine schöne Erfindung» (Verlag R. Brockhaus) herausgegeben.

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Datum: 13.10.2005
Autor: Jürgen Werth

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