Wie lassen sich reformierte Kirchen von Evangelikalen herausfordern?
In seinem Eingangsvortrag trat Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Uni Zürich, für eine differenzierte Wahrnehmung des „Evangelikalismus“ ein. Dieser sei weltweit breiter und dynamischer, als man wahrhaben wolle. Die kulturelle Spannbreite der Typen im modernen Pietismus sei enorm; auch in ihren politischen Einstellungen unterschieden sich Evangelikale durchaus. Der Zürcher Theologe bedauerte, die theologische Diskussion (namentlich über Bibel- und Heilsverständnis) werde zu wenig geführt.
Gesucht: Brückenbauer und Dolmetscher
Sowohl Evangelikalismus wie Liberalismus müssten überwunden werden, forderte Ralph Kunz im Blick auf die eine Kirche, das Volk Gottes. „Wir müssen liberaler als die Liberalen, evangelischer als die Evangelikalen werden!“ Doch den Graben zwischen den beiden Seiten überwinden könne nur, „wer von Christus selbst überwunden wurde“. Kunz, der den pietistischen Ökumeniker Zinzendorf zitierte, sieht die Kirche im Grund gegeben durch eine „Herzensgemeinschaft, die sich auf Gott verlässt“. Er hofft auf „inspirierte Menschen, die bereit sind, quer zu denken und gegen den Strom zu schwimmen, auf Brückenbauer und Dolmetscher“. Ohne den Pietismus sei die Landeskirche seit ihren Anfängen gar nicht denkbar.
„Evangelisierung, nicht Evangelikalisierung“
Die Teilnehmerzahl der Tagung, welche die Veranstalter, die evangelische Arbeitsgruppe „Neue Religiöse Bewegungen“ (NRB), überraschte, hatte mit ihrer zugespitzten Fragestellung zu tun: Was können Evangelikale der innerlich bröckelnden Volkskirche geben? Wie fordern sie sie heraus? Gefährden sie sie?
Ralph Kunz, der die Erosion in der Weitergabe des Glaubens als alarmierend bezeichnete, plädierte für eine kritische Revision des Ideals ‚Volkskirche’. Sie solle öffentlich, mit den Schwächsten solidarisch und theologisch auf der Augenhöhe der Wissenschaft sein und Gemeinschaftsorte „für geistliches Leben in grosser Pneuma-Diversität“ bieten. Die Volkskirche brauche keine frommen Monokulturen, aber eine neue evangelistische Offensive, sagte Kunz: „Geistreiche Predigten, ästhetisch ansprechende Gottesdienste, niveauvolle Erwachsenenbildung, authentische Geselligkeit und leidenschaftliche Diakonie, die miteinander für den auferweckten Gekreuzigten zeugen.“
Gellert, Streetchurch, Vineyard: Erfrischend, engagiert – und erfolgreich
Der Appell von Kunz für eine Evangelisierung der Landeskirche ohne Evangelikalisierung wurde nicht vertieft diskutiert. Denn die Veranstalter boten nicht weniger als Fünf Gemeinden und Werken , die als ‚evangelikal’ bezeichnet werden (können), eine Bühne: Die reformierte Jugendkirche Streetchurch, das ICF Zürich, die Vineyard Bern, die reformierte Gellertkirche in Basel und (später am Abend) das Evangelische Gemeinschaftswerk im Kanton Bern (EGW) konnten sich vorstellen und ihre Beziehung zur Landeskirche erläutern.
Werden alle Menschen gerettet?
Nach den Kurzreferaten, die das Ineinander von Koexistenz und Konkurrenz sowie regionale Prägungen deutlich machten, setzte Pfr. Ruedi Heinzer, Mitglied des Rats des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK, zu einer grundsätzlichen Analyse an. Er liess in einem Vortrag in den „soteriologischen Graben“ zwischen Evangelikalen und dem Rest der Reformierten blicken. Nichts trenne sie so tief und schmerzlich wie die Lehre vom Heil. Der heute in der Landeskirche herrschende Glaube an die Allversöhnung (Heinzer verwies auf Abdankungsgottesdienste) mache es auch Evangelikalen zunehmend schwer, an der ewigen Verdammnis für einen Teil der Menschen festzuhalten. Zudem trenne das Schriftverständnis, sagte Heinzer mit Verweis auf die evangelikale „Lausanner Erklärung“ von 1974. Trotz alledem könnten und müssten die zwei unterschiedlichen Confessiones zusammenarbeiten – und zuerst „offen darüber reden, was uns im Innersten trennt“.
Vertrauen auf den „gemeinsamen Geist“
Der Münsinger Pfarrer Andreas Zeller, im Berner Synodalrat zuständig für Theologie, unterstrich am Samstagmorgen die Verwurzelung seiner Landeskirche im Volk. Ihre Vielfalt und Offenheit müsse erhalten werden. Man wolle die Spiritualität vertiefen und mit den Interessierten diskutieren, wie dies geschehen solle; so werde „der gemeinsame Geist auf christlicher Basis wirken“. Dass sich die grösste Schweizer Landeskirche (noch 655'000 Glieder) mit dem staatlich verordneten Leistungsabbau schwer tut, räumte Zeller in der Diskussion ein. Er erwähnte Bethlehem (Bern-West), wo die Reformierten noch ein Drittel der Bevölkerung stellen.
Warnung vor frommen „Pseudo-Identitäten“
Pfr. Martin Scheidegger, Sektenberater in Luzern und Präsident der NRB, forderte die Evangelikalen auf, sich von fundamentalistischen Denkmustern und Gruppen zu distanzieren. Mit ihrer psychologischen Komponente befasste sich pointiert der Winterthurer Berater und Journalist Christoph Witzig. Er ortete die Gefahr, „dass Frömmigkeit eine Art Ego-Schale ergibt“, eine Pseudo-Identität. „Evangelikalismus produziert fromme Ego-Schalen anstatt wahre Menschen.“ Es gebe Evangelikale, die „machtbewusst“ die Unsicherheit von Menschen ausnutzten. Anderseits, so der Redaktor der Mitarbeiterzeitschrift der Zürcher Landeskirche, nehme heute wohl die Hälfte der Kirchenglieder Abstand von wesentlichen Glaubensinhalten des Christentums.
Abblocken aus Angst vor Veränderung?
„Die Kirche braucht unbedingt Auffrischung“: Prof. Georg Schmid wollte im abschliessenden Podium von den Referenten wissen, welchen Beitrag Evangelikale dazu leisten könnten. Wird aus Angst vor Veränderung abgeblockt? Christoph Witzig sprach von einem „militanten Durchschnitt“, der manchmal in der Landeskirche zum Tragen komme: Zuerst werde auf alles geschossen, was sich bewege – und dann tue man dasselbe… Für Ruedi Heinzer ist der „Absolutheitsanspruch“ der Evangelikalen das Problem; der Vineyard-Vertreter Wilf Gasser und Ralph Kunz konterten diesen Vorwurf mit dem Hinweis auf einen sich absolut gebärdenden theologischen Liberalismus.
Markus Giger (Streetchurch) äusserte sich begeistert über die Streetchurch, weil Menschen „dem auferstandenen Jesus begegnen und glauben; weil durch den Geist Gottes eine Beziehung zu ihm entsteht“. Darauf komme es an. Die Kirche brauche Evangelikale, um wieder missionarisch zu werden, räumte Ruedi Heinzer ein. Dani Linder (ICF) riet den Reformierten, Kirche nicht konzeptionell zu entwickeln, sondern „von unten“ zu gestalten, sodass die Beteiligten sie vermehrt als „mini Chile“ empfinden. Laut Markus Giger ist bei Evangelikalen Leidenschaft zu lernen – und „Liebe zu unserem gemeinsamen Herrn“.
Die Referate von Ralph Kunz, Ruedi Heinzer, Wilf Gasser und Christoph Witzig als PDF
Modelle evangelikalen Gemeindebaus an der Konolfinger Tagung
Datum: 03.11.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch