«Den Prostituierten genau wie Jesus begegnen»
Im Kanton Bern soll es 1800 Prostituierte geben. Das spricht wohl für ein breites Bedürfnis.
Marc Jost: Laut einer Studie leben 50 Prozent der Menschen ihre Sexualität auch ausserhalb ihrer Partnerschaft. In dem Sinne ist eine Nachfrage da. Doch das ist nichts Neues. Heute ist das Tabu der Sexarbeit einfach völlig aufgebrochen. Doch ich bin schon überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit im Grossen Rat über die Sexangebote gesprochen wurde und dass sie kaum in Frage gestellt wurden.
Sexarbeit gilt heute nicht mehr als «sittenwidrig». Einfach eine Folge des allgemeinen Wertewandels?
«Sittenwidrig» ist in erster Linie ein juristischer Begriff. Eine Prostituierte kann nun rechtlich gegen einen Freier vorgehen, wenn er eine Dienstleistung nicht bezahlt. Doch gleichzeitig wird damit signalisiert, dass die Prostitution gesellschaftlich salonfähig geworden ist und als normal gilt. Das hat sicher mit dem massiven Wertewandel zu tun.
Fördert die neue Gesetzgebung eine liberale Sexualmoral nicht noch?
Im besten Fall wird das Gesetz dazu beitragen, dass nicht mehr Personen in die Prostitution gelangen. Ich glaube sogar, dass das Gesetz den Schutz für betroffene Personen erhöht. Unser ethisches Ziel war es jedoch, dass Menschen aus ihrem Gewerbe aussteigen können. Es ist nicht menschenwürdig, wenn man so für seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Eine Förderung der Prostitution ist nicht die Zielsetzung des Gesetzes.
Darum hat die EVP dem Gesetz schliesslich zugestimmt?
Wenn wir den Zweckartikel anschauen, dann sind die Motive nicht verwerflich. Das Gesetz soll Prostituierte vor Ausbeutung und Missbrauch schützen und sicherstellen, dass präventive, soziale und gesundheitsfördernde Massnahmen umgesetzt werden.
Die EDU-Vertreter sagten schliesslich Nein. Warum waren sich die Christen so uneinig?
Ursprünglich waren sich EVP und EDU einig, dass eine rechtliche Regelung sinnvoll sei. Verschiedene Anträge unserer beiden Parteien zu einer Verschärfung wurden aber abgelehnt. Wir EVP-Vertreter vertraten immer die Haltung, wir würden dem Gesetz zustimmen, wenn es den Schutz der Betroffenen erhöht. Wir haben uns auch von einer Fachperson der Ostmission beraten lassen.
Beide E-Parteien haben wohl christlich-ethisch argumentiert ...
Unsere Anträge, die wir mehrfach gemeinsam gestellt haben, entsprangen unserer christlichen Wertehaltung. Wir wollten zum Beispiel eine Beratung für Personen, die aus diesem Gewerbe aussteigen wollen. Doch man entgegnete uns, Regelungen mit einem derart moralischen Hintergrund gehörten nicht in das Gesetz.
Warum können engagierte Christen und Kirchen beim gesellschaftlichen Wertewandel nicht mehr Gegensteuer geben?
Man gewinnt die Menschen nur für andere Werte, wenn man ihnen verständlich machen kann, was für die Gesellschaft und die Menschen das Beste ist. Und da reagieren wir Christen nach wie vor oft nicht sehr weise. Wenn wir nur dauernd den allgemeinen Wertewandel beklagen, löst das nicht viel aus. Wir sollten aufzeigen, wie einzelne Missstände konkret angegangen werden können und welcher Segen dann ausgelöst wird. William Wilberforce hat seinerzeit britische Parlamentarier mitgenommen an den Hafen und ihnen Sklavenschiffe und die Qualen und Nöte der festgehaltenen Menschen vor Augen geführt. Das hat die Politiker dazu bewogen, sich gegen den Sklavenhandel einzusetzen. Analog müssten wir Christen den Mut haben, vermehrt hinzuschauen, was im Milieu an Missständen und Not herrschen und dann konkret für Veränderungen eintreten.
Man spricht vom «Ältesten Gewerbe der Welt». Was meint die Bibel zu diesem Gewerbe?
Sie bestätigt diese Aussage leider. Zum Beispiel in 1. Mose 38, wo sich Tamar, die Schwiegertochter von Juda, prostituiert. Die Prostitution gehört mit zur gefallenen Schöpfung. Wir sind darum herausgefordert, den Menschen Alternativen aufzuzeigen. Die Bibel sagt klar, dass es das Beste für die Beziehung von Mann und Frau ist, in einer lebenslangen Gemeinschaft zu bleiben. Prostitution ist sicher nicht das, was Gott sich für die Menschen gedacht hat.
Wie sollen Kirchen und Christen «sündigen» Menschen wie Prostituierten begegnen?
Genau wie Jesus! Mir ist die ganze Sexarbeit zuwider. Sie entspricht nicht dem Idealbild meiner Gesellschaft. Doch ich bin froh, dass es Personen gibt, die den Auftrag sehen, eine direkte Beziehung zu Leuten aus dem Milieu zu suchen, um ihnen Hoffnung und Liebe zu schenken und zu helfen. Christen sollten sich fragen, mit welcher Haltung sie über Prostituierte denken und reden. Tun sie das mit menschlicher Wertschätzung und Liebe wie Jesus?
Diesen Artikel hat uns freundlicherweise «ideaSpektrum Schweiz» zur Verfügung gestellt.
Datum: 23.06.2012
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz