Wissen schafft neue Blüten

«Naturwissenschaft fehlen die ethischen Werkzeuge»

Quantenphysiker Adrian Beckert und Theologe Thomas Eggenberger
Erkenntnisse aus der Quantenphysik, prägen unseren Alltag und könnten unsere Sicht auf die Welt auf den Kopf stellen. Lässt sich dasselbe auch von der Theologie sagen? Quantenphysiker Adrian Beckert und der Theologe Thomas Eggenberger im Gespräch…

Adrian Beckert, Quantenphysik – darunter können sich viele nicht wirklich viel vorstellen. Was hat sie mit dem Alltag eines Durchschnittsbürgers zu tun?
AB: Ohne es zu merken, sind wir alle beeinflusst von den neusten Erkenntnissen der Quantenphysik. Ohne sie wäre die heutige Gesellschaft gar nicht möglich. Zum Beispiel beruhen die Transistoren jedes Computers und jedes Smartphones auf den Gesetzen der Quantenphysik.

Thomas Eggenberg, Theologie – auch das scheint für viele nicht mehr alltagsrelevant zu sein. Oder spielt sie doch in unseren Alltag hinein, vielleicht auch unbewusst?
TE: Die Alltagsrelevanz der Theologie besteht darin, dass sie Anhaltspunkte zu Lebensgestaltung und -sinn gibt, Identität stiftet, Hoffnung und Perspektive vermittelt, um das  Leben zum Blühen zu bringen. Ein konkretes Beispiel: Ob ich Kaffee oder Tee trinke, ist theologisch keine relevante Alltagsfrage. Woher der Kaffee oder Tee kommt und ob die an seiner Produktion beteiligten Menschen mit Würde behandelt werden, hingegen schon.

AB: Das ist einer der Gründe, weshalb der Gottesgedanke nicht vom Tisch gewischt werden kann. Der Naturwissenschaft fehlen die ethischen Werkzeuge komplett. Denn allein aus den Gleichungen der Physik lässt sich nicht ableiten, wie man Kaffeebauern behandeln soll und was gut ist. Was im Allgemeinen für gut und menschlich vernünftig gehalten wird, gründet auf christlichen Werten. Jesus weist mit seinem Leben und Handeln genau darauf hin, was gut ist.

Das heisst, Naturwissenschaft und Theologie ergänzen sich?
TE: Ja, die Theologie fragt danach, warum und wozu etwas da ist, die Naturwissenschaft, wie etwas entstanden ist und wie es «funktioniert». Insofern sind biblische und naturwissenschaftliche Aussagen unterschiedlich. Die Schöpfungsgeschichte zum Beispiel ist kein naturwissenschaftlicher Bericht.

AB: Ich glaube, dass der biblische Schöpfungstext nach wie vor die drängendsten Fragen, die uns Menschen beschäftigen, beantwortet. Fragen nach dem Sinn: Warum gibt es uns?  Was ist unsere Aufgabe? Wer ist Gott? Theologie ist dann kraftvoll, wenn sie für alle Menschen in ihren existenziellen Fragen Antworten gibt. Wenn wir den Schöpfungsbericht aber als naturwissenschaftlichen Text lesen, ist das eine missbräuchliche Lesart.

TE: Und dies führt unweigerlich zu falschen Interpretationen. Der Autor des Schöpfungsberichts dachte kaum an 24 Stunden, als er schrieb: «Am ersten Tag…, am zweiten Tag…» usw. Der Theologe muss immer den sprachlichen und geschichtlichen Kontext berücksichtigen. Damals waren naturwissenschaftliche Fragen, wie wir sie uns heute stellen, gar nicht bekannt.

Weshalb werden Naturwissenschaft und Theologie trotzdem oft als widersprüchlich betrachtet?
AB:
Das war nicht immer so. Der Kirchenvater Augustinus sah die Wissenschaft als ein klärendes Hilfsmittel. Es waren Vorstellungen der mittelalterlichen Kirche, zum Beispiel von der um die Erde kreisenden Sonne, die nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar waren. Anstelle des Dialogs suchte man wissenschaftliche Schwachstellen und entwickelte die Vorstellung von Gott als «Lückenbüsser»: Alles, was man nicht wusste, wurde mit Gott erklärt. Das offensichtliche Problem ist, dass mit zunehmender  wissenschaftlicher Erkenntnis Gott immer kleiner zu werden drohte, um irgendwann ganz überflüssig zu werden. Schon damals wurde diese Vorstellung von Theologen stark  kritisiert. Statt Gott in den Lücken zu suchen, sollte er im uns bekannten Wissen gesucht und im Zusammenspiel damit verstanden werden.

TE: Ich finde es bemerkenswert, dass sich naturwissenschaftliches Denken vor allem in der christlichen Kultur entwickelt hat. Wissenschaftler wie Galilei, Kepler oder Newton hatten kein Problem mit Gott, sondern mit der damaligen Lehre der Kirche. Theologisch scheint mir wichtig festzuhalten, dass es einen Schöpfer und eine Schöpfung gibt, die nicht identisch sind. Und doch besteht ein  innerer Zusammenhang. Als Theologe kann ich über die von der Naturwissenschaft entdeckte Gesetzmässigkeit, Vielfalt, Schönheit, Zielgerichtetheit in der Schöpfung nur staunen. Sie lassen etwas vom Schöpfer und seiner Genialität erkennbar werden.

Welchen Einfluss hat die Quantenphysik auf unsere Sicht auf die Welt?
AB:
In der Quantenphysik gibt es eine Reihe neuer Gesetze, welche gegen den Determinismus sprechen. Das heisst, dass nicht alles klar vorherbestimmt ist: Aus A folgt nicht  immer B, sondern manchmal B, C oder eine weitere Möglichkeit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Das gibt mir als Physiker eine gewisse Demut gegenüber den Grenzen dessen, was wir mit Sicherheit wissen können.

Was bedeutet es, wenn in unserer Welt nicht alles vorherbestimmt ist?
AB:
Der von der Quantenphysik ziemlich sicher widerlegte Determinismus ist für mich ein Argument für den offenen Theismus. Das würde heissen, dass die Zukunft selbst für Gott teilweise offen und er mit seinem Wirken Teil der sich entwickelnden Geschichte ist.

TE: Für mich ist und bleibt Gott ein lebendiges Geheimnis, das sich nicht erklären lässt. Das biblische Gebot «Du sollst dir kein Bildnis machen» steht für die Gefahr des Menschen, Gott definieren zu wollen. Und doch können wir ihn nach christlicher Überzeugung in der Person von Jesus erkennen: eine Person, die Liebe ist, die Menschen nicht verurteilt. Das ist für die Naturwissenschaften wohl eine der grössten Herausforderungen aus der Theologie: Gott wird in Jesus Mensch.

AB: Wissenschaftlich betrachtet war Jesus ein sogenannter «n = 1»- Fall: ein Fall, der nur ein einziges Mal auftritt. Als Wissenschaftler wiederholen wir Experimente unzählige Male und führen Statistiken, um uns einer Sache sicher zu sein. Bei einem einzigen Fall, einer Geschichte, einem Wunder, einem Jesus ist es wissenschaftlich gesehen sehr  gefährlich zu sagen: «Ich bin mir sicher.»

Wie können sich Ihre Fachgebiete gegenseitig bereichern bzw. zu neuen Blüten verhelfen?
TE:
Theologen können von der Neugierde, der Genauigkeit und Überprüfbarkeit seitens Naturwissenschaft lernen. Und sie sollten demütig sein gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und diese respektieren. Die Naturwissenschaft darf ruhig selbstbewusst zu ihren Erkenntnissen stehen, denn das Vertrauen in die Wissenschaft nimmt insgesamt ab.

AB: Wissenschaftler sollen aus der Theologie mitnehmen, dass jeder Mensch eine Weltanschauung hat, die Denken und Handeln prägt und die kritisch reflektiert werden sollte. Dazu kommen Aushalten von Mehrdeutigkeiten und Akzeptieren, dass gewisse Sachverhalte zu komplex sind, um sie mit einer Gleichung zu klären.

Zu den Personen:
Adrian Beckert hat an der ETH Zürich in Quantenphysik promoviert und forscht als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds am «California Institute of Technology» in Los Angeles als Postdoktorand. Er war jahrelang in der Jugendarbeit und als Vorstandsmitglied der Freien Christengemeinde Lenzburg aktiv (www.adrianbeckert.com).

Thomas Eggenberg hat in Theologie doktoriert, ist Leiter der Freikirche BewegungPlus Schweiz (www.bewegungplus.ch) sowie als Pastor einer lokalen Gemeinde in Bern tätig. Er  ist fasziniert von Jesus und der Wirkung seines Lebens, seines Sterbens und seiner Auferstehung – damals wie heute.

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Viertelstunde für den Glauben». Das Evangelium auf ansprechende Art und Weise selbst weitergeben? Das geht mit der «Viertelstunde»! Die Verteilzeitung «Viertelstunde für den Glauben», herausgegeben von der Schweizerischen Evangelischen Allianz, kann jetzt bestellt und verteilt werden.

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Datum: 27.04.2023
Autor: Daniela Baumann
Quelle: Viertelstunde für den Glauben

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