Vom Investmentbanker zum Bergbeizer
Wir geniessen die letzten wärmenden Strahlen der Oktobersonne auf der Terrasse des stattlichen Berghaus «Gemsli». Der Betreiber Rudolf Wötzel und seine Lebensgefährtin sind zufrieden, die Sommersaison ist mit rund 1‘000 Übernachtungen gut gelaufen. Bald wird auf der Alp Schlappin auf 1'650 Metern Höhe der Winter einziehen.
Als erfolgreicher Investmentbanker verdiente Rudolf Wötzel Millionen, bewohnte eine Villa am Zürichsee. Nach Karrieren bei der UBS, der Deutschen Bank und Lehman Brothers war er Spezialist für feindliche Firmenübernahmen. Minuten zählen auf der Jagd vom Jet zu Teppichetagen und Luxushotels, getrieben von Kapitalströmen, Gewinnerwartungen und Aktienkursen. Doch er bezahlt dafür einen hohen Preis: «Ich war gar nicht mehr zu echten Beziehungen fähig,» sagt er rückblickend. «Ich verlor meine Mitte, funktionierte einfach noch.» Nachts peinigten ihn Panikattacken, tagsüber schleppte er sich kraftlos umher.
Austeigen zum Aufsteigen
2006, die Wirtschaft boomt noch kräftig, durch Gewinnverdoppelung winken dem Banker traumhafte Bonuszahlungen. Doch zunehmend zweifelt Wötzel am System: «Man kann nicht ständig noch einen Draufsetzen.» Er nahm sich Zeit für eine Standortbestimmung. Aufgewachsen in einer katholischen Mittelstandsfamilie in München erbt er vom Vater die Liebe zu den Bergen. Nun reift in ihm ein Plan. Er will wieder echtes Leben spüren, reale Berggipfel bezwingen. Täglich brütet er über Karten und Marschtabellen. Gegen Ende 2006 wagt er den ersten Schritt, kündigt Job und Haus, tauscht den Massanzug gegen Wanderhosen ein. Er bricht auf zu einer Alpenüberquerung von Salzburg bis nach Südfrankreich.
Lehrmeister Natur
«In der Natur lernte ich wieder Schritt für Schritt meinen Weg zu gehen, statt fremdbestimmt zu funktionieren.» Wötzel legt in 120 Etappen, 1'800 km zu Fuss zurück, überwindet dabei 129 Gipfel, besteigt 33 Viertausender, oft im Alleingang, Leistungswille und Ehrgeiz treiben ihn vorwärts, bis an seine Grenzen. Herabstürzende Eisbrocken, Blitzeinschläge oder Kälteeinbrüche überlebt er nur mit Glück, gerät dadurch ins Nachdenken. Als er aufbricht, will er die Alpen besiegen, wie einst der furchlose Heerführer Hannibal. Nach fünf Monaten kommt Wötzel als geläuterter Pilger in Nizza an. «Ich habe zu mir selbst gefunden, bin in Einklang mit der Natur und mit dem Schöpfer gekommen,» schreibt er in seinem Buch: «Über die Berge zu mir selbst.»
Sinn bringt Gewinn
«Die Bergwelt zeigt dem Mensch seine Grenzen, das macht demütig,» resümiert er seine Erlebnisse. Er habe gelernt, auch mal zu scheitern, einen Plan aufzugeben, umzukehren, auch nur noch wenige Meter vom Gipfel entfernt. Für den erfolgsverwöhnten Macher eine harte Lektion, er hat nicht mehr alles im Griff, lernt Geduld und Vertrauen. Die Ankunft auf dem Gipfel ist dann für ihn Lohn genug, lässt staunen, neue Perspektiven entdecken und weckt den Sinn für Spiritualität, für Gott. Doch auch Angst, wie weiter, könne sich in solch einem Moment aufdrängen, so Rudolf Wötzel.
Erst die Auseinandersetzung mit sich selbst, den Gefühlen, Ängsten, Wünschen und dem Glauben formt Kaderleute zu reifen Persönlichkeiten, zu echten Führungskräften. Dazu braucht man Zeit, weiss Wötzel aus Erfahrung. Und die Bergwelt ist für ihn das perfekte Trainingsfeld. Mit Vorträgen, Seminaren und seinem zweiten Buch will Wötzel andern Menschen Mut machen, ihren eigenen Weg zu sich selbst zu finden. Seine Gäste glücklich zu machen ist für ihn heute der grösste Gewinn und das Leben in der Bergwelt sein schönster Bonus.
Buch von Rolf Wötzel bestellen:
Über die Berge zu mir selbst
Datum: 31.12.2011
Autor: Willy Seelaus
Quelle: viertelstunde für den Glauben