Mit ADHS umgehen lernen

«Ein anderer Weg der Kommunikation»

Wer unter ADHS leidet hat Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und seine Impulse zu regulieren. ADHS beginnt im Kindesalter und kommt in allen Kulturen und sozialen Schichten vor und ist unabhängig von der Intelligenz.
Bei ADHS ist das Beziehungsumfeld wichtig.
Annerös und Beat Tanner

Beat Tanner, Theologe, Paar- und Familientherapeut und Supervisor, begleitet auch Kinder, die ein Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zeigen. Laut Fachleuten ist ADHS die häufigste diagnostizierte Krankheit bei Kindern. Die typischen Symptome sind Unaufmerksamkeit, Konzentrationsschwäche, Tagträumerei, Aggressionen, soziale Schwierigkeiten, Impulsivität und Hyperaktivität. Livenet wollte von Beat Tanner wissen, wie sich dieses Verhalten im Alltag auswirkt.

Livenet: Beat Tanner, wie erkennen Laien, dass ein Kind unter ADHS leiden könnte?

Beat Tanner: Das Verhalten solcher Kinder löst bei den Eltern und andern Bezugspersonen wie Lehrpersonen an Schulen Gefühle aus wie: Unsicherheit, Hilflosigkeit, Wut, Unverständnis, Schuldgefühle und gereiztes Verhalten. Aber natürlich auch Mitleid. Oft führt dies dann dazu, dass die Eltern eine falsche Schonhaltung einnehmen, weil sie das Kind damit entschuldigen, dass es nicht anders kann. Dies führt oft zu einer eskalierenden Beziehungsspirale.

Nun liest man aber auch davon, dass ADHS-Diagnosen oft allzu schnell gestellt werden?
Es gibt verschiedene Temperamente bei Kindern. Abweichungen von der sozialen Norm sind tatsächlich noch keine Hinweise auf eine ADHS-Symptomatik. Wenn nur auf Grund eines äusseren Verhaltens eine Diagnose gestellt wird, ist dies meines Erachtens ein grosses Versäumnis. Es gibt Kinder, die sich so mitteilen. Therapeuten dürfen sich bei einer ADHS-Diagnose nicht durch ursächlich seelische Nöte ablenken lassen.

Oft sind es Leistungsdruck, Nervosität und Ansprüche der Erwachsenen und ihrem Perfektionismus, welche beim Kind Ängste auslösen. Es fürchtet, den eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen anderer nicht gerecht zu werden und macht sich durch ADHS-Symptome bemerkbar.

Wie weit ist ADHS genetisch bedingt?

Die Gene sind unerlässlich am Leben und Weiterbestehen der Menschen beteiligt. Richtig ist auch, dass sie an der Sozialisation beteiligt sind. Gene reagieren oft sehr sensibel auf Umwelteinflüsse oder auf innere Spannungen des Kindes. So kann es sein, dass ein Kind, welches unter seelischer Spannung leidet, bestimmte Gene durch biopsychologische Signale im Gehirn aktivieren oder deaktivieren kann.

Der Mensch ist eben mehr als Materie. Er besitzt auch eine Seele. Das Zusammenspiel von Seele und dem Gehirn ist zum Teil immer noch ein Geheimnis, das auch eine theologische Dimension hat. 

Man kann also die typischen Symptome sogenannten ADHS- Kinder auch anders verstehen, als nur neurobiologisch bestimmt?

Ja, man kann sie auch als eine Kommunikation des Kindes mit bestimmten Botschaften an die Bezugspersonen verstehen. Solche Kinder haben einen anderen Weg der Kommunikation gefunden. Sie teilen sich mehr durch Verhalten und weniger durch Worte mit. Werden diese Symptome und Verhaltensweisen jedoch richtig verstanden, und reagieren Eltern und Lehrpersonen entsprechend darauf, lernt das Kind, sich mehr verbal und weniger durch körperliche Symptome mitzuteilen. 


Dann müsste man also die so gesendeten Botschaften verstehen, um solchen Kindern zu helfen?

Ja, genau! Das Verstehen der gesendeten Botschaften ist der Schlüssel zum Verständnis und Umgang mit solchen Kindern! Wer die ADHS Symptome versteht, ist in der Lage die Beziehung zu verändern. Wenn die Eltern das Verhalten ihrer Kinder richtig deuten können, sind sie den ADHS-Symptomen nicht hilflos ausgeliefert und werden wieder handlungsfähig. Sie werden sich nicht mehr so hilflos und ohnmächtig ihrem Kind ausgesetzt fühlen und mit Wut und Verzweiflung reagieren müssen.

Können Eltern eine solche Beziehung selber verändern?
Grundsätzlich ja. Doch zeigt die Erfahrung, dass die Eltern in der Regel eine Mut machende Unterstützung in diesem Veränderungsprozess brauchen. Ich empfehle in solchen Situationen eine Erziehungsberatung. 

Wie sieht eine solche Beratung aus?

Eine Beratung soll natürlich  individuell auf die familiäre Situation, den Möglichkeiten der Eltern und des Kindes  zugeschnitten sein. ich biete dies auf drei Ebenen an: Unterstützung und Coaching für die Eltern, Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen in der Schule und selbstverständlich Unterstützung für das Kind. Das heisst, Training seiner Impulskontrolle und seiner Aufmerksamkeit.

Sie beziehen auch den christlichen Glauben in der Beratung mit ein. Wieso?
Beziehungen, wie wir sie in Familie, christlichen Gemeinden und Gesellschaft vorfinden, sind von Gott in die Schöpfung des Menschen hineingelegt worden. Der Glaube spricht von den Beziehungen zwischen den Menschen, aber auch zwischen den Menschen und Gott.

Liebe, Schuld und Fehler, Vergebung und Versöhnung sind bei den ADHS-Kindern und deren Eltern genauso ein ernst zu nehmendes Thema, wie bei allen anderen Personen. Menschen werden dort heil, wo eine Änderung der inneren Haltung geschehen darf, weil sie aus Betroffenheit die eigenen falschen Denk- und Verhaltensweisen erkennen.

Das ist auch der Weg, wie unser Gehirn sozial funktionsfähig wird, wenn aus einer inneren Betroffenheit die Vernetzung unser Nervenzellen verändert werden. So sieht es auf jeden Fall die Neurobiologie: Nur die persönliche Einsicht und Betroffenheit der eigenen Unzulänglichkeiten, Schwächen und Fehler führen zur Veränderung.

Wer sich von der biblische Botschaft betroffen machen lässt, welche uns aufzeigt, dass Gottes Liebe, Güte, Gnade und die Erlösung von der eigenen Schwachheit und Schuld ein menschliches Bedürfnis ist, erfährt auch eine persönliche Veränderung in seinen Beziehungen.

Das ausführliche Interview mit Beat Tanner können Sie hier nachlesen.

Zum Interviewpartner: 
Beat Tanner ist Theologe und arbeitet als Paar- und Familientherapeut und Supervisor in eigener Praxis. Er arbeitet vor allem mit Ehepaaren, renitenten Kindern und Jugendlichen sowie mit Kindern mit der sogenannten ADHS-Symptomatik.

Die Fachstelle für Ehe- Familie und Erziehung ist in Aarau an der Bleichemattstrasse 15 zu finden.

Buchtipps:
Oft begegnet man der Meinung, ADHS komme einem unveränderbaren, genetischen Schicksal gleich. Grundlegende Veränderung sind aber möglich, weil Gott versprochen hat, jedem Weisheit zu geben, der sie sucht. Edward T. Welch gibt in seinem Buch Eltern und andern Erwachsenen Hilfe, Ermutigung und weist auf biblische Lösungen in der Bewältigung dieser Krankheit hin.

Edward T. Welch
ADS und ADHS (Nr. 10): Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom

Helmut Bonney und Gerald Hüther
Neues vom Zappelphilipp: ADHS: verstehen, vorbeugen und behandeln.

In der folgenden Bücher-Liste werden die Begriffe ADHS und ADS uneinheitlich gebraucht, meinen jedoch die gleiche Krankheit.

Bernau, S. (2003). Alles über ADS bei Erwachsenen. Freiburg: Herder. (gut lesbare, anschauliche Übersicht für Betroffene)

Claus, D., Aust-Claus, E., Hammer, P.-M. (2002). A D S. Das Erwachsenen-Buch. Neue Konzentrations-Hilfen für Ihr Berufs- und Privatleben. Ratingen: Oberstebrink.

Hallowell, E.M., Ratey, J. (1999) Zwanghaft zerstreut. ADS – Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. (gut lesbares Buch mit vielen Checklisten)

Hartmann, T. (1997). Eine andere Art, die Welt zu sehen. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Lübeck: Schmidt-Römhild. (ADS von seinen positiven Seiten betrachtet)

Neuhaus, C. (2005). Lass mich, doch verlass mich nicht. ADHS und Partnerschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Ryffel-Rawak, D. (2001). ADS bei Erwachsenen. Betroffene berichten aus ihrem Leben. Bern: Hans Huber. (veranschaulicht die Vielfalt der Erscheinungsformen von ADS bei Erwachsenen)

Datum: 13.04.2012
Autor: Bearbeitung Bruno Graber
Quelle: Livenet pd Beat Tanner

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