Popstar des Mittelalters: Hildegard von Bingen
Hildegard ist anschlussfähig. Das zeichnet die mittelalterliche Äbtissin bis heute aus. Deswegen kann man sie googeln und findet dabei heraus, was zum Beispiel ihre Meinung zum Kaffeegenuss ist: «Auch beim Kaffee kommt es auf das richtige Mass an, um die die Gesundheit zu erhalten.» Dass die Kaffeekultur Mitteleuropa erst 500 Jahre nach ihr erreichte, spielt dabei kaum eine Rolle… Aussagen wie diese sind typisch für den Umgang mit ihr.
Hildegard war Mystikerin, Universalgelehrte, Theologin, Heilkundige, Äbtissin, Autorin und Komponistin. Sie verhandelte mit Päpsten und Kaisern und war gleichzeitig fürs Volk erreichbar. Sie war eine Frau, die alle Konventionen sprengte und mit beiden Beinen mitten im Leben stand. Kein Wunder, dass sie immer noch dazu einlädt, sie zur Anwältin der eigenen Sache zu machen – von einem gesunden Lebensstil bis hin zu Frauenrechten. Wahrscheinlich hätte sie sich heute tatsächlich zu all diesen Themen geäussert.
Als «Zehnter» gegeben
Hildegard kam um 1098 in der Gegend von Alzey zur Welt – Genaueres ist nicht bekannt. Als zehntes Kind einer adeligen Familie stand schon früh fest, dass sie nach dem alttestamentlichen Prinzip des «Zehnten» Gott gegeben werden und ins Kloster gehen sollte – falls sie ihre Kindheit überleben würde, denn Hildegard war kränklich. Sie überstand die ersten Jahre und erzählt selbst, dass sie damals bereits Visionen hatte und verschiedenste Sachverhalte prophetisch einordnete. Mit acht Jahren ging sie ins Kloster unter die Obhut einer Verwandten, lernte von ihr – untypisch für die damalige Zeit – Lesen, Schreiben, Theologie, Kräuterkunde und vieles mehr. Nach dem Tod dieser wichtigen Förderin wurde sie an ihrer Stelle zur Priorin gewählt, zog aber nach einer Weile mit etlichen Nonnen aus, um ein eigenes Kloster zu gründen.
«Ungebildet», aber anerkannte Seherin
Mit 18 Schwestern liess sich Hildegard in der Nähe von Bingen nieder. Ihr dortiges Kloster wurde zum Zentrum ihres Lebens und Arbeitens. Sie begann dort auch, ihre Visionen niederzuschreiben. Da sie keine klassische Schulbildung hatte und ihr Latein nicht perfekt war, halfen ihr andere beim Verfassen. So galt sie als Gelehrte auf der einen Seite als «ungebildet», auf der anderen Seite entwickelte ihr Kloster eine derartige Strahlkraft, dass viele Nonnen dort Aufnahme suchten. Ausserdem schrieb sie sich mit vielen Prominenten aus Kirche und Politik – bis hin zu Kaiser Barbarossa und mehreren Päpsten.
Ihr Erfolg rief Neiderinnen hervor, die sie immer wieder mit falschen Anschuldigungen überzogen. Eine wichtige Hilfe war es, als Papst Eugen III. Hildegard erlaubte, ihre Visionen zu veröffentlichen und sie als Seherin anerkannte. Dabei ging Hildegard sehr geschickt vor: Sie konnte nicht nur überzeugend und schlüssig argumentieren, sondern verstand es auch, an den richtigen Stellen nur noch zu sagen, dass es ja gar nicht um sie ginge, sondern das Gesagte direkt von Gott stamme. Damit predigte sie, mischte sich politisch in die Papstwahlen ein und lebte eine Form der Emanzipation, die der damaligen männerdominierten Gesellschaft Jahrhunderte voraus war. In Diskussionen verwies sie jedoch stets darauf, dass sie keine ekstatisch gewonnen Erkenntnisse weitergeben würde, sondern klar überlegte. So ist ein überliefertes Zitat von ihr: «Dein Schöpfer hat dir den besten Schatz gegeben, einen lebendigen Schatz: deinen Verstand.»
Die Hildegardmedizin
Viele kennen und schätzen Hildegard heute hauptsächlich wegen ihrer medizinischen Einsichten. Dabei verband sie die medizinische Tradition ihrer Zeit mit einem gesammelten Heilkräuterwissen aus der Volksmedizin und schuf so eine neue Art, über Gesundheit zu reden und Krankheit zu behandeln. Auch hier will sie viele Erkenntnisse durch göttliche Visionen erhalten haben, in denen sie die Heilwirkung von Pflanzen, vor allem Gewürzen oder auch gesunder Ernährung erkannte.
Hildegard verfasste hierzu einige medizinische Abhandlungen. Die meisten erhaltenen stammen jedoch aus den Jahrhunderten nach ihr und wurden wohl eher von ihr inspiriert als direkt geschrieben. Spannend ist hierbei, dass sich Hildegard sowohl der anrüchigen Kräuterkunde als auch Themen, die mit Sexualität zusammenhängen, sehr unverkrampft näherte. Ein Satz wie «Auch in den Geschlechtsteilen des Menschen blüht die Vernunft, so dass ein Mensch weiss, was er zu tun und lassen hat. Daher hat er Genuss an diesem Werk» war damals revolutionär.
Gewissensgeleitet
Immer wieder setzte sich Hildegard bewusst zwischen die Stühle: Sie redete Kaiser Barbarossa mehrfach deutlich ins Gewissen. Sie bezog politisch Stellung. Und schliesslich liess sie einen exkommunizierten Adligen auf dem Klosterfriedhof beisetzen. Dieser hatte zwar noch Busse getan, doch Kirchenobere bestanden darauf, dass er exhumiert und auf den Schandacker gebracht würde. Hildegard widersetzte sich, die Gerechtigkeit stehe über dem Gehorsam, antwortete sie der Kirche. Daraufhin wurde über sie und das Kloster das «Interdikt» verhängt – dort durften fortan keine Sakramente mehr gespendet werden. Das schadete jedoch weder Hildegards Ruhm noch ihrer Anziehungskraft, denn «es brannte in ihrer Brust eine Liebe, die keinen Menschen ausschloss» erklärte ihr Biograf, der Mönch Gottfried Theoderich, dazu. An dieser frommen und besonderen Frau kam und kommt die Kirche nicht vorbei. Bereits zu ihren Lebzeiten wurde sie von einigen als Heilige verehrt, seit 2012 ist sie eine der ganz wenigen Frauen, die die katholische Kirche als «Kirchenlehrerin» bezeichnet.
Hildegard heute
Vieles, was Hildegard heute zugeschrieben wird, wird ihr sicher nicht gerecht. Sie war nicht emanzipiert im heutigen Sinne. Aber hinter Mythen und Vereinnahmungen steckt eine Frau, die es sich zu entdecken lohnt. Und dass ihre Art zu denken und zu glauben bis heute anschlussfähig sind, zeigt, dass sie vieles richtig gemacht hat. Sie bezeugte auch: «Gottes Sohn wurde Mensch, damit der Mensch Heimat habe in Gott.»
Neben klassischen Informationen über Hildegard im «Ökumenischen Heiligenlexikon» gibt es auch eine eher geschichtlich ausgerichtete Folge von «Terra X – Die Deutschen» über sie sowie den sehenswerten Spielfilm «Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen» von Margarethe von Trotta von 2009 (Trailer hier).
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Datum: 30.06.2025
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet