Hilfe angeboten

«Der liebe Gott hat den Kreis 4 nicht lieb»

Nachts spuckt der berüchtigte Kreis 4 in Zürich seine unersättlichen Jäger aus. Rotlicht, Drogen, Gewalt – wenn es dunkel wird, zeigt der «Kreis Cheib» ein düsteres Gesicht. Ein Mädchen kam in ihrem Schulaufsatz sogar zum Schluss: «Der liebe Gott hat den Kreis 4 nicht lieb!» Auch Pfarrer Willy Im Obersteg sagt: «Im Kreis 4 haben der Heilige Geist und der Teufel manchmal Streit.» Mit seinem Team ist Im Obersteg für Hilfesuchende da.
Im «Chrischtehüsli» lässt sich Hilfe finden.
Regelmässig werden Mahlzeiten angeboten.
Mit einer Mahlzeit im Bauch sieht das Leben schon besser aus.

Der Kreis 4 trägt den Übernamen «Kreis Cheib», «Cheib» steht im Schweizerdeutschen für «Kadaver». Dass man den Stadtteil so nennt, ist zurückzuführen auf das Jahr 1214, damals entschlossen die Stadtherren, dass das Unangenehme über die Sihl hinüber an diesen Ort gebracht wird, die Tierkadaver, der Galgen, der Friedhof für Mörder und Ungetaufte und so weiter – der Name «Cheib» ist geblieben.

Das «Ch» im Wort soll bleiben, aber aus dem «Kreis Cheib» soll der «Kreis Christi» werden, sagt Pfarrer Willy Im Obersteg. Seit Jahren investiert er sich in dieses Quartier. Er ist Pfarrer der Lukaskapelle, die gemeinsam mit der Vineyard Zürich und dem «Chrischtehüsli» vor Ort ist.

Kuchen und Tränen

Viele junge Menschen würden sich engagieren, und beispielsweise einen Tisch im Kreis 4 aufstellen und Kuchen und Gebet anbieten. «Das gibt viele ganz interessante Gespräche, die bis zu Tränen führen», schildert Willy Im Obersteg. Man stosse einerseits auch auf Ablehnung und höre andererseits Fragen wie «Was, junge Leute setzen sich für so etwas ein? Das ist schon grossartig!»

Leute aus den verschiedensten Nationen tummeln sich im anrüchigen Quartier, zum Beispiel Drogenhändler aus Kolumbien oder der dominikanischen Republik, welche die Strassen unsicher machen aber auch unter sich Probleme haben. Hinzu kommen alteingesessene Schweizer und assimilierte Italiener, die seit je dort wohnen.

«Der liebe Gott hat uns nicht lieb»

Ein Mädchen schrieb in einem Aufsatz: «Der liebe Gott liebt den Kreis 4 nicht.» Da widerspricht Willy Im Obersteg: «Gott hat ihn gern, darum sind so viele da, die bereit sind, sich einzusetzen und er erinnert sich an eine Begegnung. «Da war ein Mann, den ich schon lange kenne. Der letzte Schritt aus den Drogen heraus ist ihm aber noch nicht gelungen. Dann verteilte ein Team der Vineyard Kuchen. Er nahm ein Stück und wendete sich dann ab. Ich fragte mich, warum er das tut, da dreht er sich wieder um, bricht den Kuchen und gibt mir die eine Hälfte. Schweigend essen wir und ich dachte, „jetzt habe ich ganz echt Abendmahl gefeiert“.»

Viele fluchen

Eine Polizistin habe ihm einmal «viel Kraft bei ihrer wichtigen Arbeit gewünscht» und ein anderer habe gestaunt, als ihm Im Obersteg sagte: «Sie und ich, wir haben die gleiche Aufgabe.» Denn beide würden den Menschen einen Ausweg zeigen wollen. Die Polizei mit dem Gesetz im Rücken. «Da hören wir aber auch viele fluchen über die Polizei, zum Beispiel Abhängige oder Prostituierte, die Angst haben, wenn sie illegal da sind.» Leicht habe es weder die Polizei, noch die Christen. «Denn wir bringen eine Botschaft, die nicht das Gesetz ist. Die Polizei hat zumindest das Gesetz hinter sich. Aber hinter uns steht Jesus Christus, der uns Kraft gibt.»

«Mit frommen Sprüchen!»

Manchmal steht der Kuchentisch vor dem Kreisbüro der Stadtverwaltung. «Dann kommen Personen, die Probleme mit ihrer Aufenthaltsbewilligung haben. Sie sind verärgert, weil die gesetzlichen Vorschriften nicht ihrem Wunsch entsprechen. Sie poltern dann auch gegen uns:

„Es wäre gescheiter, wenn ihr schauen würdet, dass und geholfen wird!“
„Wir wollen helfen!“
„Ja, mit frommen Sprüchen!“
„Nein, wir sind auch bereit, zu Gesprächen, um einen Weg mit euch zu finden.“

Solche Gespräche erlebte ich schon. Wenn es mit der Person dann aufwärts geht, ist es leider oft so, dass sie findet, sie könne „es“ nun wieder selber machen. Dennoch ist aber ein Samen ausgestreut; wie neulich gerade bei einem Indianer, der allerlei Probleme hatte. Als ihm geholfen worden war, ist er wieder weggeblieben. Aber der Same ausgestreut.»

Akzeptiert

Zurückhaltend sind Menschen aus islamischen Staaten, während bei Menschen aus Osteuropa, Lateinamerika oder Afrika die Konfession keine Rolle spielt. So könne ein katholischer Latino über die Strafe rufen: «Sälu Pfarrer!»

Willy Im Obersteg: «Sie wissen, dass wir auf sie eingehen, und dass wir nicht zum Vornherein missionieren wollen. Eine Frau die neun Jahre in Drogen war, sagte mir: „Wenn ihr über Jesus geredet habt, blockte ich ab.“ Doch heute verkündet sie ihn selbst. Etwas bleibt hängen, für die Leute ist aber auch wichtig, dass man sie auf ihre Art akzeptiert.»

Ein wichtiger Teil sei da das «Chrischtehüsli» eine Art Therapiestation, in die Leute von der Gasse zum Mittagessen eingeladen werden. Ihnen wird auch der Ausstieg aus den Drogen schmackhaft gemacht. Die Zusammenarbeit zwischen der Lukasgemeinde, der Vineyard und dem Chrischtehüsli, das von Christen aus den unterschiedlichsten Freikirchen und Kirchen getragen wird, sei sehr gut; auch weil Im Obersteg diese Institution sieben Jahre präsidiert habe.

Im Obersteg über seine Rolle: «Ein Pfarrer hat die Aufgabe, das Evangelium zu verkünden, und dann dem Herrn zu überlassen, dass es gedeiht, wir können höchstens säen und etwas giessen – um so schöner ist es dann, wenn ein Pflänzling wächst.»

«Manchmal kriege ich eins aufs Dach»

Die Hoffnung überwiege, auch wenn es manchmal fast deprimierend sei: «An einem Weihnachtssonntag ging ich in die Lukaskappelle in den Gottesdienst und auf dem Weg sah ich eine Frau, die in den Abfallkübeln nach ihrem Weihnachtsmenü suchte. Das schmerzte mich enorm, wenn ich dann in den Zeitungen Anzeigen von Restaurants lese, die ihre Fünfgang-Menüs anpreisen – ein Gegensatz der mich beelendet. Aber wir dürfen nicht bei diesem Pessimistischen bleiben. Immer wieder stehe ich in dieser Hoffnung, dass aus diesem „Kreis Cheib“ letztlich der „Kreis Christi“ wird. Da bin ich ein Optimist, der halt auch mal eins aufs Dach kriegt.»

So habe etwa eine junge Frau einen Termin mit ihm vereinbart, um mehr über den Glauben zu erfahren. Gekommen sei sie aber nicht, stattdessen sei sie ins Spital eingeliefert worden, weil sie versucht habe, sich den «goldenen Schuss» zu versetzen.

Islam im Kreis 4

Die Lukasgemeinde würde von früheren Moslems besucht. Auf der Strasse erlebe er Moslems eher als ablehnend. «Die Ablehnung ist vor allem dort zu spüren, wenn eine islamische Frau von ihrem Mann begleitet wird. Dann darf sie einem nicht mal Grüssen, sie ist ja unter der Aufsicht des Mannes.» Es habe aber auch schon spannende Gespräche gegeben, oder Personen, die Gebet wünschten. Moslems hätten auch schon Kirchenasyl gesucht.

Datum: 20.11.2008
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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