Wunsch nach Religionsfreiheit

Indische Christen zwischen Hoffnung und Angst

Am indischen Nationalfeiertag wünschen sich die Minderheiten in der "grössten Demokratie der Welt" Freiheit - Religionsfreiheit vor allem - und dass Ausbeutung und Diskriminierung enden. Christen werden an vielen Orten von fanatischen Hindus verdächtigt, bedroht und attackiert, zuletzt in der Weihnachtszeit. Und doch wachsen die christlichen Gemeinschaften in allen Landesteilen.
Vernehmen Mutter und Tochter die christliche Botschaft? Christliche Helfer haben ihr Dorf in Bihar besucht.
Ein Mob aufgehetzter Hindus plündert muslimische Häuser und Geschäft, Gujarat 2002.
Frauen das Lesen beibringen und eine Bibel in die Hand geben – Tor zu einer helleren Zukunft.
Mit Hass auf Minderheiten geimpft: Hindutva-Aktivisten.
Demonstration des Allindischen Christenrats für Religionsfreiheit in Delhi, Mai 2007.
Eine neue Sicht aufs Leben, eine neue Sicht aufs Land: Teilnehmer einer christlichen Schulung.
Ja zu Christus, Nein zur Kastensklaverei: Taufe in Nagpur, Oktober 2006.

Eine Welle von Attacken lief am 24. Dezember gegen Christen im armen Gliedstaat Orissa an: gemäss der Organisation Open Doors 800 Übergriffe, mindestens vier Tote, mehrere hundert Verletzte, 95 abgebrannte Kirchen, 730 zerstörte Wohnhäuser - und Christen, die in die Wälder flohen, um ihre Haut zu retten. Orissa ist der Gliedstaat, in dem der australische Missionar Graham Staines ermordet wurde. Nach der jüngsten Gewaltwelle leben die Christen laut der staatlichen Minderheitenkommission "weiterhin in Angst und fühlen sich unsicher".

Täglich gedrillt

Die enormen sozialen Unterschiede und das Verlangen bisher ausgebeuteter Kasten und Stämme, sich besser zu stellen, führen überall im Riesenland zu Konflikten, wie VJ (Pseudonym) ausführt. VJ leitet Open Doors in Indien; er weilte im November in der Schweiz. Kopfzerbrechen bereiten ihm die Massenorganisationen, die vom radikalhinduistischen Nationalen Freiwilligenkorps (RSS in Hindi) gelenkt werden. Da wird Millionen von jungen, teils arbeitslosen Indern ein Hass auf Christen und Muslime eingeimpft. Über Jahre werden sie in täglichen paramilitärischen Ritualen (Shakas) gedrillt. "Einige Gruppen trainieren nicht mehr mit Stöcken, sondern mit Speeren." VJ hat Berichte gelesen, wonach einzelne Gruppen mit Gewehren trainieren, um für jede Eventualität gerüstet zu sein.

Hindutva

Hindutva ist der Kernbegriff der Ideologie des RSS, seiner Massenorganisationen und der mit ihm verbundenen Heimatpartei BJP, welche 1998-2004 die Zentralregierung dominierte. Hindutva geht davon aus, dass alle Inder im Grunde Hindus sind und dass die künftige Stärke Indiens auf der alten Hindu-Kultur aufzubauen ist, unter Beibehaltung des von Kasten geprägten Sozialgefüges. Die Nicht-Hindus dürften nach dieser Ideologie nicht gleiche Rechte haben wie die (in zahllose Strömungen aufgesplitterte) Hindu-Mehrheit. Wer Inder zu Christen macht, entfremdet sie ihrer Tradition und verunreinigt die angestammte Kultur, ‚beleidigt' die Hindu-Götter. Diese intoleranten Auffassungen werden der Bevölkerungen in Hunderten von Zeitungen unter die Nase gerieben und neuerdings auch in einem halben Dutzend nationaler Hindu-TV-Kanäle eingetrichtert.

Gegen das Indien Gandhis und Nehrus

"Keinesfalls darf man Hindutva als authentischen Ausdruck von Hinduismus sehen", mahnt VJ. "Hindutva ist eine faschistische Ideologie in hinduistischem Gewand, die sich ausbreiten will." Die Lehre, gegen Ende der britischen Kolonialzeit formuliert, ist ein radikaler Gegenentwurf zur Staatskonzeption der Väter des modernen Indien, Gandhi und Nehru.
Diese gestalteten den Staat säkular aus, allen Religionsgemeinschaften gegenüber neutral. Die intoleranten Hindus gelangten 1998 mit dem BJP-Spitzenpolitiker Vajpayee in Delhi an die Hebel der Macht. Rasch wurden die Geschichtsbücher umgeschrieben. VJ: "Ihr Endziel ist eine Hindu-Nation, und sie werden alles tun, was sie können, um Indien zu einem hinduistischen Land zu machen."

"Nationale Gehirnwäsche"

VJ schätzt die Hindutva-Bewegung heute stärker ein als vor zehn Jahren. Sie habe gewiefte Ideologen in ihren Reihen, welche imstande seien, den Leuten den Kopf zu verdrehen. Ein durchschnittlicher Hindu sei nicht gegen Minderheiten eingestellt - (noch) nicht fanatisch. "Die Propaganda für Hindutva und gegen Minderheiten wird aber mit solcher Wucht und medial derart breit betrieben, dass man sie als Versuch einer nationalen Gehirnwäsche sehen muss." Jeden Tag findee sich diese Hetze in den Zeitungen, die in Hindi und den Volkssprachen erscheinen. Zuerst habe sie sich gegen Muslime gerichtet: "Sie wurden aufgefordert, nach Pakistan umzuziehen. Dann, um 1998, wurden die Christen zur Zielscheibe."

Beten ist zuviel

In der aufgeheizten Atmosphäre wird sogar der Christ, der seinen Glauben in seinen vier Wänden still ausübt, unindischer Machenschaften verdächtigt. Open Doors geht den Vorfällen nach: "In Madhya Pradesh und Chhattisgarh hat die Polizei Bibeln beschlagnahmt mit der Begründung, darin sei von Religionswechsel, ‚conversion', die Rede." In Chhattisgarh sei das Leben für Christen immer schwieriger geworden, sagt der Beobachter. Denn die Hasspropaganda beeinflusse auch die Beamten.

Jabalpur ist eine Region im zentralen Gliedstaat Madhya Pradesh mit zahlreichen christlichen Gemeinden. Die regierende BJP stellt sich offen gegen die Christen. "Der Druck hat seit 2004 zugenommen. In Jabalpur hat es über 25 Verfahren gegen Christen gegeben. Pastoren wurden fälschlich angeklagt." Die Diskriminierung habe ein solches Ausmass angenommen, dass 2006 ein Team der (staatlichen) Nationalen Minderheitenkommission die Vorfälle untersuchte.

Bibeln verbrannt, PC demoliert

Die Kampagne gegen die Christen hat viele Facetten: Missionsbüros und Kirchengebäude werden zur Zielscheibe von Attacken, manchmal ohne vorherige Drohung. Bibeln und christliche Bücher werden verbrannt, Computer gestohlen oder zerschlagen, Möbel demoliert. "Vor kurzem wurden in Madhya Pradesh fünf Nonnen überfallen - und die Polizei nahm nachher die Nonnen fest, unter dem Vorwurf, sie hätten Leute bekehrt!" Die Absicht, Leute zu bekehren, wird den Christen nun bei jeglicher Aktivität (auch Schulen, medizinische Pflege) unterstellt.

Wer nicht nachgibt…

Unter den Hindutva-Aktivisten sind auch Journalisten. Wie VJ berichtet, erschien kürzlich ein Journalist bei einem christlichen Treffen in Chhattisgarh - und forderte seinen Abbruch! Andernfalls werde er das RSS alarmieren. "Tatsächlich folgten ihm RSS-Leute; sie störten denn auch die Versammlung. Fanatiker, Polizisten, lokale Beamte und ihre Schutzherren im Parlament, sogar die Justiz handeln im Sinn des RSS." Besonders entmutigt die Christen, was sie auf dem Polizeiposten nicht selten erleben: Wenn die Beamten überhaupt eine Anzeige aufnehmen, verwässern sie den Sachverhalt so, dass die Täter ungestraft davonkommen. Andererseits wird den Christen ohne zureichende Gründe die "Verletzung religiöser Gefühle" vorgeworfen.

Unübersehbare geistliche Aufbrüche in Nordindien

Nach der Einschätzung von VJ haben unter Christen an der Basis Unsicherheit und Furcht zugenommen. "Die Fronten sind klar: wir und sie. Die Christen fühlen sich ausgegrenzt." Gleichzeitig finden in mehreren Staaten Nordindiens starke geistliche Aufbrüche statt. Hunderte lassen sich taufen, weil sie neu an Jesus Christus glauben und nach seinen Werten leben wollen. Angehörige der "rückständigen Kasten" (other backward castes, OBC) wünschen zu Tausenden zum Christentum überzutreten. Dies überfordert die Leiter christlicher Gemeinden.

Hat die beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung des Landes den Christen Gutes gebracht? VJ verneint und bringt ein Beispiel: "11 Prozent der Christen im Punjab sind noch immer damit beschäftigt, Fäkalien herumzutragen. Dass diese Dalits Christen wurden, hat ihnen wirtschaftlich keine Vorteile gebracht, wie ein Fernsehbericht zeigte. Sie sind weiterhin ausgegrenzt und verachtet - allerdings haben sie nun christliche Gemeinschaft. Die Kirche wird aber zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt."

Dalit-Gemeinden

Landesweit entstammen 85 Prozent der Christen der untersten Schicht der Dalits (Unberührbare, Kastenlose). Dalits, die Christen werden, verlieren oft ihren Job, da die für Dalits gemäss dem staatlichen Quotensystem reservierten Stellen Christen nicht offenstehen. Seit Jahren versuchen Christen dies durch ein Urteil des Obersten Gerichts zu ändern. Die Verhandlung ist wieder und wieder verschoben worden, bis heute.

Selbst denken - Christus entdecken

Angesichts der anhaltenden Indoktrination durch Medien, formidablen Hindu-Festen und furchteinflössenden Massenaufmärschen ist eine zunehmende Intoleranz im multireligiösen Land zu befürchten. Allerdings geschieht, so VJ, auch Befreiung aus dieser Prägung durch Vorurteile und Hass: "Christen bekommen Kraft. Zeichen und Wunder geschehen. Auf erstaunliche Weise beschützt der Herr die Gläubigen. Die Kirche wächst, Gott wird verherrlicht! Junge Leute und Kinder, Studenten und Berufsleute kommen zu Christus und wünschen unterrichtet zu werden. Was mich besonders begeistert: Viele denkende Menschen kommen zum Glauben!"

Mehr zur Gewalt radikaler Hindus
Bericht der staaatlichen Minderheitenkommission zur Gewaltwelle in Orissa

Datum: 26.01.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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