«Glauben wir einander den Glauben noch?»
«Ich bin gottesfürchtig aufgewachsen», erzählt Regula Scharnowski. Während der Pubertät beschloss sie jedoch: «Es gibt keinen Gott!» Doch später fand sie zu einem persönlichen Glauben an Jesus Christus. «Das war sehr befreiend für mich, wie der Wechsel von schwarz-weiss zu bunt.» Im Theologiestudium in Zürich wurde diese Überzeugung jedoch unterspült. Es gebe keinen historischen Mose oder Abraham, hörte sie. Sie musste alles hinterfragen und verlor immer mehr ihre Freude am Bibellesen, und ihr Gottvertrauen geriet ins Wanken. Sie spürte immer mehr: Was sie als Befreiung erlebt hatte, würde sie durch diese kritische Theologie wieder verlieren. Dazu war sie nicht bereit. Schliesslich wechselte sie an die Freie Evangelische Theologische Hochschule (heute STH) in Basel. Hier lernte sie ihren Ehemann kennen.
Kirche und Welt sind verschiedene Grössen
Reinhold Scharnowski wuchs in einer Freikirche in Deutschland auf. Am Gymnasium in Deutschland forderte ihn der Religionslehrer auf, seinen «Kindergartenglauben» abzulegen. Von diesem Religionsunterricht meldete ihn sein Vater ab. «Später erfuhr ich vom persönlichen Jesusglauben dieses Lehrers. Dennoch war er ein liberaler Theologe», erklärt Scharnowski. «Da erkannte ich zum ersten Mal, dass es möglich ist, persönlich begeistert sein von Jesus und davon zu reden. Die theologischen Wurzeln wie das Kreuz, Wunder oder die Auferstehung Jesus bleiben jedoch davon getrennt.» Dies habe ihn überrascht. Er staune, dass jemand diese Spannung aushalte.
Nicht von dieser Welt
Moderator Florian Wüthrich will nun wissen: «Wie kommt ein Pastor zu einem reiferen Glauben?» Reinhold Scharnowski antwortet: «Für mich sind Kirche und Welt zwei verschiedene Grössen.» Jesus habe zu seinen Nachfolgern gesagt: «Ihr seid nicht von dieser Welt.» Für ihn sei das eine ganz grundsätzliche Aussage. «Lange wollte die Landeskirche sich mit der Welt vermählen, wollte die Welt prägen, wurde auch von ihr geprägt.» Da habe eine enge Verbindung bestanden. Doch die Zeit des Christentums laufe nun sehr schnell aus, zumindest in Mitteleuropa. «Kirche ist etwas grundsätzlich Neues, das Jesus angefangen hat. Das Reich Gottes ist die Zukunft der Welt.»
Predigt muss praktisch sein!
Freikirchen hätten sich dagegen immer als separate Einheiten verstanden. Als Scharnowski Ende der 70er-Jahre FEG-Pastor wurde, fand eine Öffnung zur Welt statt. Dazu wurde beschlossen, Predigten müssten praktisch sein, nicht theologische Theorie. «Einerseits war das war eine grosse Befreiung, man durfte Gefühle einbringen, während der Anbetung die Hände hochhalten.» Dies sei anfangs sehr attraktiv gewesen.
Doch rückblickend findet er, dass damals die theologischen Wurzen gefehlt hätten. «Es gab kaum noch Orte, wo systematisch Pflöcke gesetzt wurden. Bibelstunden wurden abgeschafft.» Die theologische Verwurzelung sei immer mehr vernachlässigt worden. «Heute haben wir eine Generation, der dieses Wissen fehlt. Sie ist mit missionarischen Vorzeichen der Gesellschaft ausgeliefert, kann aber die Fragen der postmodernen Gesellschaft nicht beantworten.»
«Haben wir Christen uns der Gesellschaft zu sehr angepasst?», fragt Florian Wüthrich nun Regula Scharnowski. In gewissen Kreisen erkenne sie diese Tendenz, antwortet die Theologin. Ihr fehle vor allem eine gesunde kritisch-positive Bibellehre. Junge Menschen kritisierten, dass sie in der Gemeinde ihre Fragen nicht beantwortet bekämen. «Es fehlt ihnen die Auseinandersetzung mit der Bibel, eine kreative Bibelstunde», findet Regula.
Was ist Wahrheit?
«Die gemeinsame sinnstiftende Erzählung ist in der Postmoderne verloren gegangen», sagt Wüthrich. Man lege sich nicht mehr fest, jeder solle seinen Weg selbst finden. Reinhold Scharnowski bestätigt das. Von «der Wahrheit» zu reden, gehe fast nicht mehr, es gebe jedoch Meinungen dazu. «Evangelikal Gläubige beantworten die Frage nach der Wahrheit mit der Offenbarung Gottes in seinem Wort», führt er aus. Das werde jedoch als Option verstanden. Mit dem Argument: «Unser Wissen ist Stückwerk» könnten auch ganz andere Wege aufgezeigt werden. «Doch wir versuchen, in die richtige Richtung unterwegs zu sein.»
Vor 20 Jahren habe er sich sehr für die Erneuerung der Kirche eingesetzt. «Lange ist Paulus sehr im Mittelpunkt gestanden, dann rückte Jesus in den Vordergrund, seine drei Jahre der Lehre.» Heute werde er nicht mehr als ewiger Gott gesehen, der angebetet wird, sondern eher als moralisches Beispiel oder Vorbild für Barmherzigkeit anerkannt. Es bleibe aber die Tatsache bestehen, dass Jesus an unserer Stelle am Kreuz gestorben sei. «Dass Gott selber die Strafe getragen hat - das ist die Sprengkraft des Evangeliums», stellt der Theologe klar. Dies habe Menschen zur Umkehr gebracht und zeige die Kraft des Evangeliums auf.
Freude überwiegt
Regula Scharnowski bedauert, wenn Menschen bei der Kreuzestheologie, bei Schuld und Sünde steckenbleiben. «Denken sie nur daran, wie schlecht sie sind, wenn sie vom Evangelium hören? Ich frage mich dann, ob viele Menschen die Sprengkraft des Evangeliums gar nicht erlebt haben?» Im Gegensatz zu Menschen, die freikirchlich geprägt sind, habe sie den Glauben nie als eng erlebt. «Ich bin froh, dass mir die enge fromme Vergangenheit fehlt.» Dafür sei sie dankbar. «Ich schöpfe immer wieder Freude, wenn ich an meine Bekehrung denke.»
Sehen Sie sich den Livenet-Talk mit Reinhold und Regula Scharnowski an:
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Datum: 24.05.2023
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet