Der Freiheitsgeist und die Schreckgespenster am Nil
Ein unheilvoller Mob hatte in der Nacht gewütet, war in die Kirche eingedrungen, hatte den Wachmann getötet und das Gotteshaus mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt. Mit voller Wucht hatten die Muslime salafistischer Prägung die christliche Gemeinschaft mit Messern und Gewehren attackiert. Nun, wenige Stunden später ist das Gebiet um die Kirche weiträumig abgeriegelt, alle zwei Meter steht ein Soldat stramm. Grimmige Blicke funkeln unter den tief ins Gesicht gezogenen, sandbraunen Stahlhelmen, die Hände fest an den automatischen Gewehren. Polizisten und weitere Militärs sitzen in gepanzerten Kommandowagen.
Wir schlüpfen zwischen ein paar Soldaten durch, passieren die gesperrten Fahrbahnen, die noch von der entsetzlichen Schlacht zeugen und betreten die ausgebrannte Kirche. Bei der Auseinandersetzung starben 15 Menschen, 200 wurden verletzt.
Traurige Gesänge
Der Brandgeruch hängt noch in der Luft. Verbogene Ventilatoren, verkohlte und verbrannte Bänke und Bilder zeugen von der grauenhaften Attacke. Weinende und wehklagende Menschen irren durch die Trümmer. Die Kirche zählt mehrere Säle, die wegen dem kleinen Grundstück übereinander gebaut sind. Auch die Räume im ersten und im zweiten Stock sind ausgebrannt.
Dennoch hören wir Gesänge aus dem ersten Stock. Auf der überfüllten Treppe quetschen wir uns eine Etage höher. Priester in weissen Gewanden leiten einen Gottesdienst, der Schmerz, Trauer und Unverständnis ausdrückt. Noch ein Stockwerk höher lesen wir an der verkohlten Wand einen Schriftzug in arabischer Sprache. «Am Ende wird alles gut.» Jemand aus der Kirche hatte diesen Satz in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft an die Mauer geschrieben.
Die Hintermänner sind noch immer auf freiem Fuss, sie seien nicht auffindbar, steht in den nächsten Tagen in den Zeitungen. Eine Farce, sind es doch radikale Imame, die in den Freitagspredigten zum Niederbrennen von Kirchen aufrufen. «Die Leute küssen ihnen die Hände, weil sie als Heilige verehrt werden, selbstverständlich weiss man, wo die sind», ärgert sich Botros Hakim, ein aufrechter, österreichisch-ägyptischer Koptenführer.
«Wir haben keine Waffen!»
Unter den Salafisten ging das Gerücht um, in der Kirche werde eine Frau festgehalten, die um aus ihrer Ehe zu entkommen, vom Christentum zum Islam konvertiert sei. Rasch rottete sich im Armenviertel Imbaba, wo die Kirche steht, eine rasende Menge Salafisten zusammen. Mit der in solchen Fällen üblichen Gemächlichkeit trotteten auch Militär und Polizei herbei – um die Angreifer gewähren zu lassen.
Laut Augenzeugen hat ein fundamentalistischer Befehlshaber einem der Terroristen wohlwollend auf die Schulter geklopft, während ein koptischer Soldat weinend zuschauen musste, wie gegen seine Glaubensgemeinschaft geschossen wurde. Auch liess das Militär zu, dass die Meute anschliessend mehrere Kilometer zu einer zweiten Kirche aufmarschierte, um auch diese in Brand zu stecken.
«Wir kämpfen nicht mit Waffen, wir haben unseren Glauben», sagt ein von Trauer gezeichneter Mann in der Kirche. Seine Tochter schicke er nicht mehr zur Schule, weil so viele koptische Mädchen entführt werden: «Heute kann es die Tochter eines Bekannten sein, morgen könnte es meine Tochter sein.»
Muslime mit christlichen Kreuzen
«Früher wurden alle paar Wochen christliche Mädchen entführt», sagt der schweizerisch-ägyptische Autor Medhat Klada, «seit der Revolution geschehen diese Entführungen täglich.» Gegen diesen Missstand demonstrieren junge Christen am Tahir-Platz vor dem Fernsehgebäude seit Wochen mit einem Sitzstreik. Sie halten die Revolution in Schwung. Wir begegnen einer Gruppe junger Männer, die auf dem Weg zu dieser Kundgebung sind. Einer ist Christ, die vier anderen sind Muslime. «Wir sind alle Ägypter, wir wollen Freiheit!»
An den Abenden sind auf dieser Kundgebung neben vielen Christen, die Holzkreuze tragen oder Gemälde von Jesus und Fotos von entführten Mädchen auch immer wieder Muslime zu sehen, die sich mit den Kopten solidarisieren; so sind beispielsweise muslimische Frauen zu sehen, die sich Kreuze auf die Hand gemalt haben.
Freiheit
Sie alle sind in tiefer Sorge um ihr Ägypten, um ein Land, in dem die gut organisierten Muslimbrüder, die Salafisten und die Gamal Islamia versuchen, die Macht an sich zu reissen. Zwar sind die Radikalen in der Minderheit, aber sie schrecken vor Gewalt nicht zurück und über die Moscheen beeinflussen sie viele Menschen und durch das Verteilen von Reis und Makronen punkten sie gerade bei den Armen.
Etliche liberale Muslime sagen, wer solche Anschläge verübe, sei kein Ägypter. Am letzten Freitag, 13. Mai 2011, lud Medhat Klada Politiker, Anwälte, Gelehrte, Journalisten, Autoren und Geschäftsmänner zur Konferenz «One hand for Egypt». Etwa 400 Intellektuelle folgten dem Ruf seiner «Coptic Organisations Union in Europe» in einem Hotel am Nil.
Einer der Sprecher, der ägyptische Demokratie-Aktivist Said Eddin Ibrahim, bezahlte seit Jahren im Ringen um die Freiheit einen hohen Preis. Heute geht er an einem Stock. Seit langem setzt sich der Muslim für die christliche Minderheit ein. Ex-Präsident Hosni Mubarak hatte versucht seine Stimme zum Verstummen zu bringen. Mehrere Jahre war Ibrahim in einer finsteren Zelle eingekerkert.
Ibrahim auf der Konferenz: «Ich hätte nie gedacht, dass in der Zelle, in der ich sitze, einst Hosni Mubarak sitzen wird.»
Erstmals seit 1400 Jahren können die Christen in Ägypten ihre Freiheit öffentlich einfordern – gleichzeitig aber geht die Angst vor erneuter Gewalt der Islamisten um.
Zum Thema:
Kopten protestieren gegen islamistische Gewalt (Video)
Konflikt zwischen Muslimen und Kopten eskaliert
Analyse: Ägypten auf dem Weg zur Freiheit?
Datum: 17.05.2011
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Jesus.ch