Um der Atomenergie nicht zu schaden, werde die Botschaft «kein Grund zur Beunruhigung» ausgegeben, sagte der Physiker Sebastian Pflugbeil am Montag zum Auftakt einer internationalen Konferenz zu «20 Jahren nach Tschernobyl» in Berlin. Als Beispiel nannte Pflugbeil eine UN-Tagung im vergangenen September in Wien. Dort sei die Anzahl der Toten der Reaktorkatastrophe in der ehemaligen Sowjetunion unter Verweis auf den heutigen Leiter der ukrainischen Strahlenschutzbehörde offiziell mit 50 angegeben worden. Unabhängige Beobachter gingen dagegen von rund 500’000 Menschen aus, die direkt oder indirekt durch die Explosion am 26. April 1986 oder durch Strahlung zu Tode kamen. Umstritten ist bei den Wissenschaftlern auch die offizielle These, wonach das Unglück durch Überhitzung des Reaktors ausgelöst wurde. Zudem sollen 97 Prozent des Kernbrennstoffs nach der Explosion wieder in die Räume unter den Reaktor zurückgefallen sein. Der Moskauer Physiker Konstantin P. Checherov vom Kurchatov-Institut bezeichnete dies als «Mythen», die hartnäckig gepflegt würden. Checherov zufolge handelte es sich um eine Kernexplosion, wenngleich auch eine schwache. Dabei sei fast alles radioaktive Material in die Atmosphäre verpufft. Checherov: «Einen grösseren Unfall kann es nicht geben.» Dramatisch sind bis heute die gesundheitlichen Folgen vor allem in den betroffenen Gebieten der Ukraine, Weissrusslands und Russlands. Allein in der Ukraine seien heute rund 60 Prozent der Kinder durch Strahlung belastet, sagte die Kiewer Radiologin Angelina L. Nyagu von der Medizinischen Akademie der Ukraine. Bis heute würden in Kiew Kinder geboren, die Leukämie auslösendes Strontium in den Knochen hätten. Rund 1,5 Millionen Menschen lebten nach wie vor in strahlenbelasteten Gebieten, 167’000 seien bisher an Leukämie erkrankt, so Nyagu weiter.50 Tote – oder eine halbe Million?
Kommentar
Eine genaue Zahl wird es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch deshalb nie geben, weil die mehreren 100'000 „Liquidatoren“, die zu Aufräumarbeiten in die Region beorderten Soldaten, aus diversen Teilen des Riesenlandes stammten. Viele von ihnen wurden nach dem Einsatz schwer krank.
Datum: 05.04.2006
Quelle: Epd