«Drehe vor Angst fast durch»
«Im Internet gibt es viele Informationen, die völlig ungefiltert auf den Patienten einstürmen und vor allem auf ängstliche und unsichere Menschen sehr suggestiv wirken», sagte Christian Albus, Leiter der Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik Köln. Das Netz lade geradezu dazu ein, ein Hypochonder (eingebildeter Kranker) zu werden.
Etwa fünf bis zehn Prozent aller Patienten in ärztlichen Praxen sind seinen Schätzungen zufolge Hypochonder. Betroffene befürchten, an einer ernsthaften Erkrankung zu leiden, obwohl keine körperlichen Veränderungen zu finden sind.
Verunsichert
Auch der Psychologe und Psychotherapeut Florian Weck von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bezeichnet das Internet als eine «Verunsicherungsplattform». Die Versuchung für Patienten, Krankheitssymptome selbst einmal zu googeln, sei gross. «Und auf Websites wie etwa netdoktor.de werden auch schlimme Krankheiten beschrieben.»
Prominete Hypochonder
Die Angst, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, kann viele Menschen treffen: Der Evolutionswissenschaftler Charles Darwin litt daran, der Schriftsteller Thomas Mann und der Filmpionier Charlie Chaplin. Der bekannteste Hypochonder der Weltliteratur ist ohne Zweifel «Der eingebildete Kranke» von Molière. Und obwohl die Komödie schon 1673 in Paris uraufgeführt wurde, hat das Krankheitsbild der Hypochondrie nichts von seiner Aktualität verloren.
«Habe solche Angst»
Millionen von Menschen leiden in Deutschland daran, schätzen Experten. Genaue Zahlen gibt es nicht. «Aber man geht davon aus, dass es fünf bis zehn Prozent aller Patienten in ärztlichen Praxen sind», sagt Christian Albus.
Eine von ihnen ist «Mausi», die sich in einem Internetforum für Hypochonder lieber hinter einem Tarnnamen versteckt. «Drehe fast durch», schreibt die junge Frau dort verzweifelt, «habe solche Angst, dass ich im Rücken einen Tumor habe». Seit ein paar Wochen leide sie an diffusen Schmerzen in Armen und Beinen: «Jetzt habe ich gelesen, dass das ein Zeichen für Tumore im Rücken sein kann».
Falsche Deutung
Hypochonder beobachteten meist keine ungewöhnlichen Symptome, erläutert dazu Christian Albus, aber sie deuteten die Symptome falsch: «Sie bauen eine diffuse Angstspannung auf, die gebunden ist an die Überzeugung, eine ganz bestimmte Krankheit zu haben.» Die Aufmerksamkeit verschiebe sich: Fortan dreht sich alles nur noch um eben diese Krankheit.
Ergebnis einer Entwicklung
«Betroffen sein können alle, Männer wie Frauen, junge und alte Menschen», sagt Florian Weck. Es kommen meist mehrere Faktoren zusammen, die Menschen zu Hypochondern werden lassen. Viele stammen aus Familien, in denen das Thema Krankheit eine grosse Rolle spielte. Oft haben sie selbst Erfahrungen mit schweren Erkrankungen gemacht oder mussten erleben, wie Angehörige starben. «Hypochondrie ist das Ergebnis einer Entwicklung», sagt Psychotherapeut Christian Albus. Im Internet stürmten viele Informationen völlig ungefiltert auf den Nutzer ein und wirkten vor allem auf ängstliche und unsichere Persönlichkeiten ungemein suggestiv.
Ärzte einer Klinik in Boston beklagten in der US-amerikanischen Fachzeitschrift «New England Journal of Medicine», dass Patienten die im Internet gelesenen Informationen schon allein deswegen als Fakten einstuften, weil sie auf einem Computerbildschirm erschienen.
Oft dauert es viele Jahre, bis ein Arzt merkt, dass sein Patient ein Hypochonder ist. Die Folgen einer unbehandelten Hypochondrie können Depressionen und soziale Isolation sein.
Verhaltenstherapie möglich
Wer erkannt hat, dass er Probleme hat und bereit ist, sich helfen zu lassen, für den kommt etwa eine Verhaltenstherapie infrage, die oft erfolgreich ist. Florian Weck und seine Kollegen von der Frankfurter Goethe-Universität untersuchen derzeit in einer Studie, welcher Ansatz in der Verhaltenstherapie für welchen Patiententyp besonders geeignet ist.
Auch mit Medikamenten lässt sich Hypochondrie behandeln. Allerdings rät Klinikleiter Christian Albus davon ab, ausschliesslich darauf zu setzen: «Die Erfahrungswerte in Bezug auf Medikamente sind nicht sehr ermutigend. Psychotherapeutische Ansätze sind die bessere Wahl», sagt er.
Oft lässt sich eine Verhaltenstherapie auch mit einer medikamentösen Behandlung gut kombinieren. Wie aussichtsreich eine Behandlung ist, hängt davon ab, wie lange ein Patient schon Hypochonder ist. «Je früher die Behandlung einsetzt, desto besser», sagt Albus.
Wie erkennen?
Macht sich nicht zuweilen jeder Gedanken über seine Gesundheit oder hat Angst vor dem Tod? «Selbstverständlich», meint Christian Albus. «Aber was einen gesunden Menschen auszeichnet, ist die Fähigkeit, das auch mal zu verleugnen.»
Datum: 11.11.2010
Quelle: Epd