Das Tabu brechen

Wie weiter nach dem Suizid?

Wer es selbst im näheren Umfeld erlebt hat, weiss um den Horror, den ein Suizid für die Hinterbliebenen bedeutet. In einem sehr emotionalen Livenet-Talk brachen Pfarrerin Sabrina Müller und Livenet-Redaktionsleiter Florian Wüthrich das Tabu und sprachen über persönliche Erfahrungen zu diesem Thema.
Familie trauert um toten Vater
Livenet-Talk mit Florian Wüthrich und Sabrina Müller
Cover des Buches «Totsächlich, Trauern und begleiten nach einem Suizid»

Man könnte sagen, dass ein Suizid viele weitere Opfer hinterlässt, die mit der Entscheidung dieser Person umgehen und irgendwie weiterleben müssen. Genau das erlebten sowohl die Pfarrerin Dr. Sabrina Müller, die im August 2006 ihre beste Freundin Angelika durch Suizid verlor, als auch Livenet-Chefredakteur Florian Wüthrich, dessen guter Freund Patrick vor genau zehn Jahren Suizid beging.

Dieses Thema, das die beiden im letzten Livenet-Talk ganz offen ansprachen, ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu. Gerade deshalb schrieb Sabrina Müller vor wenigen Jahren ein Buch zu dem Thema. «Mir ist es wichtig, darüber zu reden, weil die Leute nicht darüber reden und weil ich merke, dass das ganz viel von dem Trauerprozess hemmt und dass Menschen, die das erlebt haben, nachher extrem allein sind mit den Gefühlen, mit den Fragen und der Trauer.» Obwohl es in unseren Medien und in den Filmen überhaupt kein Tabu ist – dies sei für sie ein Paradox.

Ganz individuelle Trauerphasen

Doch was passiert mit jemandem, der mit dem Suizid eines Verwandten oder Bekannten konfrontiert wird? Die Reaktionen sind immer sehr individuell, was allein schon die Berichte der beiden Talkgäste zeigte. Zunächst sei es ein Schockzustand, Bilder und Erlebnisse vom Tag des Geschehens brennen sich ein. Sabrina Müller, die zum Zeitpunkt des Suizids von Angelika gerade im Hochzeitsurlaub in den USA war, fiel sofort in eine innere Erstarrung – sie habe nichts mehr gespürt, sei tagelang nicht ansprechbar gewesen und habe nur versucht, jeweils einen Tag nach dem anderen zu bewältigen.

Bei Florian Wüthrich kam schon bald die Wut hoch und die Frage nach dem Warum. Lange habe er es nicht wahrhaben wollen. Auch wenn er in gewisser Weise die Familie seines Freundes in dieser schweren Situation mittragen konnte und den Vorfall in einem Artikel nur eine Woche später erwähnen und scheinbar verarbeiten konnte, fiel auch er bald darauf in eine innere Starre, die sich erst nach einem Jahr löste.

Dieser Punkt ist für Sabrina Müller, die sich in den vergangenen Jahren zu einer Expertin in dem Thema entwickelt und viele Menschen im Trauerprozess begleitet hat, sehr wichtig: Die Verarbeitung eines Suizids ist ein jahrelanger Prozess. «Häufig hören die Leute nach drei, vier Monaten: 'Du solltest jetzt wieder zurück ins Leben kommen.'» Sie selbst habe Jahre gebraucht, um den Tod ihrer besten Freundin wirklich zu verarbeiten.

Was hilft beim Verarbeiten?

Diverse Aktivitäten halfen sowohl Florian als auch Sabrina bei der Bewältigung vom Trauerprozess, wobei auch hier deutlich wurde, dass dies ein ebenso individueller Prozess ist. Doch beide stimmten überein, dass es helfen kann, sich körperlich zu betätigen, um damit auch die Emotionen herauslassen zu können. Es helfe, in die Natur zu gehen, Sport oder Fitness zu betreiben – und auch soziale Kontakte können helfen, wobei Sabrina Müller selbst zugab, zunächst jegliche soziale Kontakte gemieden zu haben, weil es ihr einfach alles zu viel war. Was ihr persönlich half, war das Kümmern um zwei kleine Hunde, die sie von der Strasse adoptierte, aber auch kirchliche Mentoren, die sie etwa begleiteten, als sie das erste Mal wieder die Uni Zürich betrat – hier hatten Angelika und sie gemeinsam Theologie studiert.

Auch auf geistlicher Ebene gibt es sehr unterschiedliche Wege bei der Trauerbewältigung: Während Florian Wüthrich weiterhin seine Gemeinde besuchte – wenn auch gerade am Anfang mit einer etwas zynischen Haltung –, brach Sabrina Müller zunächst das Studium und auch die Gottesdienstbesuche ab. Sie kam an einen Punkt, an dem sie selbst Todessehnsucht verspürte und keine Hoffnung mehr sah. An einen gütigen Gott konnte sie nicht mehr glauben. Aber als sie ganz unten war, merkte sie mit einem Mal: «Da gibt es doch noch etwas, und das ist die Stelle aus Johannes, die mir mega wichtig geworden ist (Johannes, Kapitel 1, Vers 5): 'Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis vermag es nicht auszulöschen.' Um mich herum war es sehr dunkel, ich mochte nicht mehr leben, aber dann habe ich gemerkt: Es gibt ein Licht. Es gibt etwas, das mich hält.»

Letztlich schloss sie ihr Studium ab, arbeitete eine zeitlang als Pfarrerin und ist heute Lehrbeauftragte für Praktische Theologie an der Universität Zürich. «Für mich ist jetzt Glaube und das Theologinnensein sehr viel mehr geprägt von der Überzeugung: Glaube ist nicht Antwort, Sicherheit, sondern fragende Existenz zwischen Anfechtung und Vertrauen. Glauben hat man nicht einfach, man kann ihn nicht festhalten und es wissen. Es ist ein fragendes Sein mit Gott – aber auch ein Merken, dass er trägt.»

Der theologische Aspekt

Ebenfalls zur Sprache kam der theologische Aspekt eines Suizids: Was sagt Sabrina Müller den Trauernden etwa bei einer Abdankungsfeier nach einem Suizid? Für sie ist klar: «Wir Menschen entscheiden nicht darüber, wie es nachher (Anm. d. Red.: nach dem Tod) weitergeht. Suizid wird in der Bibel nicht verurteilt. Es heisst nicht, dass es gut ist, aber es ist etwas, das zum Menschsein dazugehört und es gibt Situationen, in denen es ein Mensch nicht mehr aushält.» Über die Jahrhunderte hinweg bis heute sei der Suizid in der Gesellschaft mit Scham verbunden, verpönt und verurteilt worden. Doch dies sei eine menschliche Entscheidung gewesen. «Ich glaube nicht, dass Gott so tickt wie wir Menschen… Vor allem glaube ich nicht, dass ein Mensch, der in Not ist, dort (Anm. d. Red.: bei Gott) keinen Platz hat – und ein Mensch, der sich das Leben nimmt, ist in Not gewesen.»

Auch für Florian Wüthrich wurde ein Bibelvers in der Zeit der Trauer sehr wichtig, nämlich Psalm 34, Vers 19: «'Der Herr ist denen nahe, die verzweifelt sind und rettet jeden, der alle Hoffnung verloren hat.' Ich glaube auch, dass die Gnade, die Liebe und das Erbarmen von Gott viel weiter gehen, als wir manchmal denken.»

Das beste Hilfsangebot

An Sabrina Müller wenden sich auch viele Menschen, deren Bekannte oder Freunde einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben. Wie kann man in solch einer Situation am besten helfen? Für Sabrina Müller ist es das beste Hilfsangebot, wenn man einfach darüber reden kann. «Freunden einer trauernden Person würde ich sagen: Ja, trauernde Menschen sind nicht immer einfach und sind nicht immer berechenbar und sie brauchen nicht einfach gute Ratschläge, aber sei einfach für sie da. Nimm sie mit zum Kaffeetrinken, geht zusammen wandern – das ist mega wichtig, damit der Trauernde nicht vereinsamt.»

Zum Buch von Sabrina Müller:
«Totsächlich»

Den Talk in voller Länge anhören:

Hilfsangebote für Suizidgefährdete und Angehörige:
Die dargebotene Hand
Krisen-Interventionszentrum Klinik Sonnenhalde
Seelsorge.net
Pro Juventute

Zum Thema:
Dossier Livenet-Talk
Pfarrerin Dr. Sabrina Müller: «Suizid darf kein Tabuthema bleiben!»
Suizid von Megachurch-Pastor: Depression und psychische Probleme im Pastorendienst
Missbrauch und Suizidversuch: «Dorothée, du sollst leben!»

Datum: 07.07.2020
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet

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