Islamische (Straf-)Gesetz

Scharia-Labor in Indonesien?

Der Beschluss des Provinzparlaments von Aceh, Ehebruch gemäss dem islamischen Gesetz, der Scharia, mit Steinigung oder 100 Stockhieben zu bestrafen, gibt in Indonesien weiter zu reden und weckt Befürchtungen. Ein führender Politologe warnt vor einer Polarisierung.
Aceh Islam
Bachtiar Effendy

Zwar weigert sich der Gouverneur der zur arabischen Welt hin orientierten Grenzprovinz Aceh weiterhin, das Anfang Oktober verabschiedete Gesetz in Kraft zu setzen. Doch der Beschluss des Parlaments kurz vor Legislaturende hat Indonesier - nicht nur der Minderheiten - aufgeschreckt. Der Politikwissenschaftler Bachtiar Effendy, Dekan an der Staatlichen Islamischen Universität in der Hauptstadt Jakarta, fragt in einem Beitrag in der 'Jakarta Post', was ein islamisches Gesetz nützt, das nicht angewandt wird.

Laut Effendy, der die frühere Bürgerkriegsprovinz kürzlich bereist hat, ist den Acehnesen die Frage bisher nie gestellt worden, ob ihr Rechtssystem auf die Scharia abgestützt zu werden braucht. Aceh gilt wegen der verbreiteten Bewunderung für die arabische Welt als «Balkon auf Mekka»; daher sei die Provinz nie als säkulares Gebiet behandelt worden. Andererseits habe die indonesische Regierung früher auch nie zugestimmt, dass Aceh nach islamischen Prinzipien regiert werde. Und es gab auch jetzt laut Effendy keinen Anlass. Die Regierung habe mit ihrem Ja zur Scharia-Gesetzgebung eine «Zeitbombe» gelegt: Die Region sehe Aceh fortan als Testfall dafür, ob und wie das islamische (Straf-)Gesetz umgesetzt werden könne.

Scharia-Labor nicht gewünscht

Bei seinem Aufenthalt vor Ort habe er gespürt, dass nicht einmal die Acehnesen selbst ihr Gebiet zum Scharia-Labor umfunktionieren wollten. Vielmehr hätten sie den Wunsch, die (teils vom Tsunami betroffene) Provinz wirtschaftlich voranzubringen. Die Einführung der Scharia würde sie in ihrer Aufholjagd gegenüber anderen Teilen Indonesiens zurückwerfen. Effendy fordert Regierung und Parlament von Aceh auf, nochmals über die Bücher zu gehen - umso mehr, als andere Provinzen bereits unter Druck kämen, das öffentliche Leben islamischen Normen zu unterstellen. Dabei werden Nicht-Muslime diskriminiert, Christen, die verbreitete religiöse Minderheit, müssen verstärkten Druck gewärtigen.

Effendy unterscheidet zwischen islamischen Normen für Familienleben und Pilgerreise einerseits und strafrechtlichen Vorschriften andererseits: Letztere würden das Land polarisieren. Und darum sei als erstes Aceh in den einheitlichen «säkularen» Rahmen von Indonesiens Staatsrecht zurückzuführen.

Tiefer liegende Gründe für Radikalisierung

In einem weiteren Beitrag in der «Jakarta Post» hat der Politikwissenschaftler Mohammad Iqbal Ahnaf darauf hingewiesen, dass der 1998 gestürzte Diktator Suharto erst gegen Ende seiner langjährigen Herrschaft die materielle Benachteiligung der muslimischen Bevölkerungsmehrheit teilweise beseitigte. Zuvor habe Suharto aus Angst vor radikalen Muslimen Minderheiten (Chinesen!) wirtschaftliche Macht und politischen Einfluss zugeschanzt.

Mehr vom Kuchen

Wenn heute Muslime die Einführung der Scharia forderten, spiele die frühere Zurücksetzung mit: Nun solle der Islam im öffentlichen Leben mehr zur Geltung kommen. Wenn sich die soziale Lage der muslimischen Mehrheit (über 80 Prozent der 245 Millionen Indonesier) nicht rasch bessere, drohe ein Zusammengehen von Vertretern dieser Mehrheit mit der kleinen Minderheit der radikalen Scharia-Verfechter - um für die Muslime einen grösseren Teil vom Kuchen zu kriegen. Vor diesem Hintergrund erwartet Ahnaf, dass sich die Massenorganisationen Nahdatul Ulama und Muhammadiyah vermehrt für die Islamisierung des öffentlichen Lebens aussprechen werden und Islamisten gegenüber Gemässigten mehr Einfluss bekommen.

Arme Bauern

Ein Leser von Ahnafs Beitrags bilanzierte, die wirtschaftliche Ungleichheit trage zur Radikalisierung der muslimischen Bevölkerung bei. Immer noch arbeiteten in Indonesien 46 Prozent in der Landwirtschaft, die meisten zur Selbstversorgung. «Solange Investoren, Muslime und andere, nicht in die Landwirtschaft investieren, wird sich wenig ändern.» Die einfache Ausbeutung der reichen Rohstoffvorkommen des Inselreichs sei viel verlockender; so aber könne die Landbevölkerung nichts ansparen - und bleibe radikalen Parolen zugänglich. Links zum Thema:
Aceh: Steinigung und Stockhiebe
Pancasila: Die indonesische Staatsideologie
Religionsfreiheit in Indonesien (Bericht des US-Aussenministeriums) 

Datum: 11.11.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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