Apropos Europameisterschaft…

Andrea Vonlanthen

Ein flotter und fröhlicher Bub. Er heisst Kay, ist 9 Jahre alt und mein Enkel. Jetzt kommt er geknickt zur Tür herein. Sehr schweigsam. Reisst sich die grünweisse Mütze vom Kopf, den grünweissen Schal vom Hals, das grünweisse Shirt vom Leib. Völlig unbegreiflich: Der FC St. Gallen hat wieder verloren! Der Trainer hat den falschen Goalie aufgestellt, die Stars waren Krücken, der Schiedsrichter war die grösste Pfeife. Kay ist am Boden. Ich kann gut mitfühlen. Nicht umsonst hatte man mir einst in der Studentenverbindung den Ehrentitel "Fan" verliehen. Ein echter Fan weiss, was leiden heisst.

Viele werden leiden. Am 12. Juni beginnen in Portugal die Fussball-Europameisterschaften. Der Spielplan hängt über dem Ehebett. Wer möchte schon ein dramatisches Spiel verpassen? Essenszeit, Sportstunde und Bibelseminar werden auf das Anspiel abgestimmt. "König Fussball" regiert. Die Heerscharen der Fans stehen im Banne der "Fussballgötter". Bereit zur modernen Anbetung.

Schon merken wir, dass der Schritt vom Fan zum Fanatiker nicht weit ist. Zum Fanatiker, der sich selber und jegliche Erziehung vergisst. Der jeden Respekt und jede Toleranz vermissen lässt. Der notfalls über Leichen geht. Wir erleben das im Sport, in der Musikszene, in der Politik und nicht zuletzt im religiösen Bereich. Auch in der christlichen Welt. Der Fanatiker weiss, was gut und richtig ist.

Er weiss es für alle. Er selber braucht keine Kritik und keine Korrektur. Fanatismus gab es immer. Doch nie war er uns dank Tagesschau so nah und so präsent. Nie war er so grenzenlos und so zerstörerisch. "Fan" ist von "Fanatismus" abgeleitet. Doch er muss nicht dort enden. Wir brauchen Fans. Menschen, die sich voll Überzeugung und mit viel Herzblut für eine Sache einsetzen. Die sich für Jesus und seine Gemeinde engagieren. Doch wir dürfen dem Fanatismus keine Chance geben.

Als überzeugter Jesus-Fan fällt mir auf, wie oft Jesus selber von Fanatikern umgeben war. Vom egozentrischen Fanatiker Petrus, der zum begeisterten Zeugen wird. Vom extremen Fanatiker Saulus, der zum enthusiastischen Fan Paulus wird. Oder von fanatischen Pharisäern, die eine Ehebrecherin kurzerhand steinigen wollen. Jesus entlarvt die Fanatiker alle. Ihre Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit. Sie stellen das Gesetz vor das Geschöpf. Die Leidenschaft vor die Liebe. Jesus selber war radikal, aber nie fanatisch. Radikal in seinem Gehorsam und in seiner Liebe. Er bringt der Ehebrecherin nicht den Tod, sondern das Leben. Fanatiker wollen Recht behalten - um jeden Preis. Jesus gibt das Leben - um den Preis seines eigenen Lebens. Fanatismus bringt Zerstörung. Jesus bringt Leben. "Wer den Sohn Gottes hat", so sagt es die Bibel in Johannes 3,36, "der hat das Leben." Ein Volltreffer, der alle Treffer im Stadion weit übertrifft.

Inzwischen ist Kay ein ganz anderer Mensch. Der FC St. Gallen ist spürbar im Aufwind. Gewiss wird "sein" Club auch wieder verlieren. Doch für diesen Fall hat er nun eine reife Antwort parat: "Es gibt ja Wichtigeres im Leben!" Das Vorbild der Eltern und die Gebete der Grosseltern bleiben offensichtlich nicht ohne Wirkung.

Grossartig wäre es übrigens doch, wenn die Schweizer in Portugal die Viertelfinals erreichten! Und die Deutschen natürlich auch.

Datum: 11.06.2004
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: Chrischona Magazin

Werbung
Livenet Service
Werbung