Solidarität – die Armen unter uns

Obdachlos

Wir leben in einer seltsamen Zeit voller Widersprüche. Eine hoch entwickelte Zivilisation, ein hoch effizienter Wirtschaftsapparat, umgeben von einem demokratischen Rechtsstaat und Sozialstaat einerseits. Immer mehr Arbeitslose, Invalide und Ausgesteuerte und Kranke auf der andern Seite, die mitten drin oder am Rande existenzieller Not stehen. Noch ist das Kranken- und Sozialsystem in der Lage die sprunghaft gestiegene Zahl von psychosomatischen Invaliden aufzunehmen. Aber der Druck steigt, auch sie in die „Eigenverantwortung“ zu stellen.

Was ist schief gelaufen? Augenfällig scheint mir innerhalb eines Jahrzehntes eine Werteverschiebung – oder Werteabbau – stattgefunden zu haben. In der kapitalistischen Euphorie nach dem Fall der Mauern im Osten galt es plötzlich als höchste Form von Ethik, möglichst viel Profit zu machen. Shareholder Values und die Quartalsgewinne in immer neuer Rekordhöhe rechtfertigten problemlos Massenentlassungen, ging es ja um die „gesunde Zukunft der Unternehmen“. Die Konsequenzen konnte man an den Einzelnen oder dann den Staat abschieben – ungestraft.

Heute, wo dieser selbst nicht mehr weiss, wie er für alle von diesem Absturz betroffenen Kranken und Verwundeten aufkommen soll, ist eine gut gepolsterte Elite nicht bereit, mehr an die Kosten beizutragen, die sie verursacht hat. Solidarität ist Sozialschwärmerei. Egoismus ist salonfähig geworden. Der Spardruck auf den Staat – und damit vor allem auf die Schwächsten der Gesellschaft – hat dogmatische Züge angenommen. Zeit zum Nachdenken.

Datum: 25.01.2004
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

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