Versuch einer Annäherung
Wir leben in einem kulturellen Umbruch, der in seiner Radikalität nur etwa alle 500 Jahre stattfindet. Zwei Mega-Epochen gehen zu Ende: die Zeit der Moderne und die Epoche des "Christentums", das seit 1500 Jahren unsere westliche Kultur entscheidend geprägt hat. Die Zeit der Moderne begann mit der Renaissance und brachte einen unglaublichen kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch 2 unsägliche Weltkriege mit sich.
Von der Moderne...
Die Moderne war grundsätzlich eine Epoche des Fortschritts und des Optimismus. Mit der Renaissance begann der Mensch, in den Mittelpunkt seines eigenen Weltbildes zu treten. Er machte sich so zum Mass aller Dinge. Einige Kennzeichen des "modernen" Zeitalters sind:
- Rationalität: alles ist begreiflich und vernünftig
- Autonomie: der Mensch lebt aus sich selbst
- Objektivität: der Glaube, dass objektive Erkenntnis möglich ist
- Wissenschaftlichkeit: die Wissenschaft ist der Schiedsrichter der Wirklichkeit; das Wissen, das sie hervorbringt, ist wahr und "ewig"
- Optimismus: Der Glaube an Fortschritt und Perfektion. Für alles gibt es eine Lösung.
- Der Glaube an eine Ordnung (Recht) sowie an grosse Ziele und Gesamtentwürfe, die die Gesellschaft teilt (wie z.B. Ehre, Vaterland usw.)
- Der Glaube, dass Sprache rational und transparent ist – sie bedeutet genau das, was sie sagt. Exakte Kommunikation ist möglich.
- Das Ziel: der umfassend befriedete, weil befriedigte Mensch
... zur Postmoderne
Der Begriff wurde erst Ende der 70er Jahre populär, obwohl bereits in den 60ern kräftige Erschütterungen durch unsere Kultur gegangen sind. Es handelt sich um eine neue Denkweise, die den Optimismus, die Vernünftigkeit, die Einheit und die Ziele der modernen Kultur kritisch hinterfragt und zum Ergebnis kommt, dass das alles nur "Konstruktionen" sind. Die Wirklichkeit ist anders: zersplittert, widersprüchlich, subjektiv, chaotisch. Die postmoderne Wirklichkeits-Schau ist eine "Dekonstruktion" der selbstverständlichen Denkvoraussetzungen der Moderne. Warum soll der Mensch eine Einheit sein? Warum sollen wir grosse, gemeinsame Ziele anstreben, wenn doch die nächste Ferienreise vor der Tür steht? Schon Brecht stellte fest "erst kommt das Fressen, dann die Moral". Die Postmoderne macht die Not der Moderne zur Tugend: jeder muss in jedem Augenblick selbst entscheiden, was für ihn richtig ist.
Ein Gespräch mit Pascal
Nehmen wir ein Gespräch über Religion mit Pascal, einem durchschnittlichen Mitteleuropäer. Je jünger er ist, um so deutlicher werden folgende Kennzeichen auftreten :
- Er schätzt es gar nicht, wenn im Namen der Religion Macht ausgeübt wird
- Er ist sehr sensibel für die Scheinheiligkeit von Menschen, die die Wahrheit für sich beanspruchen
- Er glaubt nicht an eine Wahrheit und auch nicht, dass eine Religion alle Antworten hat
Ein Argument gegen eine andere Religion (egal welche) empfindet er als beleidigend
- Er definiert sich selbst als "nicht-praktizierender Protestant (oder Katholik)". Der Protestantismus oder Katholizismus ist aber durchaus Teil seines kulturellen Erbes und seiner eigenen religiösen Definition
- Er glaubt, dass es etwas "jenseits" unserer normalen Erfahrung gibt.
- Er glaubt auch, dass dieses "Jenseits" spiritueller Natur ist
- Er glaubt, dass er dieses spirituelle Etwas findet, wenn er das "Licht in sich selbst" sucht.
Jede Spiritualität muss praktisch anwendbar und erlebbar sein
- Er wäre offen für einen spirituellen Führer.
Man bekommt das Recht, spiritueller Führer zu sein, durch Einladung und indem man in seinem eigenen Leben eine (letztlich undefinierbare) Kraft und Spiritualität besitzt.
Stellen wir diese Denkweise in einen grösseren Zusammenhang und betrachten die wichtigsten Kennzeichen der postmodernen Kultur, vor allem in Beziehung zu Gott und Religion.
Kennzeichen der Postmoderne
Subjektivität
Ich habe die Wahrheit in mir. Was für mich gilt, muss für dich noch lange nicht wahr sein.
Ablehnung von absoluten Wahrheiten
Bereits die Aufklärung (Lessing) lehnte die eine absolute Wahrheit ab. Die Postmoderne geht in der Wahrheits-Zersplitterung noch weiter: Wahrheit ist lokal, personal und spezifisch..
Ablehnung von klaren Unterscheidungen
Jeder soll glauben, was für ihn richtig ist, wobei selbst Widersprüche kein Problem sind (Patchwork-Religion). Eigentlich ist Wahrheit im Fluss; klare Unterscheidungen sind unwillkommen, weil sie zur Festlegung zwingen.
Ablehnung von "Meta-Konzepten",
Das sind Konzepte, die die Wirklichkeit erklären wie z.B. Kommunismus oder Kapitalismus. Sie sind veraltet, simplifizierend und erklären die Komplexität der Welt nicht genügend.
Toleranz
Nicht Abgrenzung, sondern Einschliesslichkeit ist wichtig.
Forderung vielfältiger Lebensstile
Moral geschieht im Plural
Die Sprache ist fliessend und subjektiv
der Hörer entscheidet ebenso über die Bedeutung von Worten wie der Redner
Informationen, die nicht in dieses Weltbild passen, werden als "Rauschen" wahrgenommen
Rauschen ist das Geräusch zwischen zwei Radiosendern und vermittelt keine Information
Die Tendenz, konservative Politik oder Religion als Gegner zu sehen
Das Bedürfnis nach Spiritualität
Das Bedürfnis nach Gemeinschaft
Die Ablehnung von Negativem
Wir werden auf diese Punkte später detaillierter eingehen. Wenn wir nun die traditionellen evangelikalen Ausdrucksformen von Glauben, Gemeindeleben und Evangelisation anschauen, wird schnell klar: hier klingt eine ganz andere Musik.
Evangelisation und Evangelikalismus als Ausdruck der Moderne
Die klassische Evangelisation geht noch voll vom Wertesystem der Moderne aus: man kann voraussetzen, dass der moderne Mensch "will", dass er vor allem glücklich werden will, dass er auf letzte Ziele, "die Wahrheit" und umfassende Lebensentwürfe ansprechbar ist und auch die Kraft hat, Ziele zu erreichen (vgl. Bittner).
Aber auch die evangelikale Gemeinde lebt noch weitgehend in der Denkwelt der Moderne. Es geht mir hier nicht um Beurteilung, sondern ich möchte aufzeigen, wie sehr unsere Werte Widerspiegelung einer bestimmten Kultur sind. Einige Beispiele:
Eine wissenschaftliche Sicht der Bibel
Die Bibel ist unser Buch der theologischen Fakten, und wir untersuchen sie, um diese Tatsachen zu entdecken – so wie ein Forscher sein Objekt unters Mikroskop nimmt. Wir glauben, dass wir objektiv und wirklich herausfinden können, was der Text sagt.
"Richtigkeit" ist wichtig
Das moderne Denken will analysieren und in eine Ordnung bringen. Was in diese Ordnung hineinpasst, wird akzeptiert, was nicht, wird abgelehnt.
Die Betonung von Lehre
Modernisten wollen Fakten herausfinden. Lehren sind theologische Fakten, über die wir übereinstimmen oder uns streiten können. Dabei haben wir wenig Toleranz für Unterschiede, weil das moderne Denken Wert auf Klarheit und Wahrheit legt. Auch die Verkündigung geschieht vor allem in einer klar definierten, systematischen Weitergabe von Lehre. Das Evangelium ist vor allem eine Lehr-Wahrheit, die als Tatsache geglaubt werden will.
Prägung durch Lehren und Predigen, weniger durch persönliche Jüngerschaft
Christliche Reife bedeutet, biblische Erkenntnis zu haben. Darum wird das Lehren stark betont. Fragebögen werden ausgefüllt und Texte auswendig gelernt.
Wenig Verständnis für das Mysterium
Etwas, das nicht leicht – oder vielleicht gar nicht - zu erklären und zu verstehen ist, hat wenig Raum.
Noch einmal: diese Praktiken sind nicht unbedingt "richtig" oder "falsch"; viel Gutes ist aus der evangelikalen Bewegung gewachsen, so die Fähigkeit, das Evangelium klar und einfach auszudrücken und ein umfassendes Verständnis der biblischen Wahrheit. Es geht hier einfach um eine kulturelle Ausdrucksform des Glaubens. Und wie alle kulturell geprägten Erscheinungsweisen besteht die Gefahr, dass das Evangelium zurückgewiesen und gar nicht erst gehört wird, wenn es ohne Kontextualisierung in eine andere Kultur übertragen wird.
Kulturen – Barrieren oder Brücken?
In ihrem hervorragenden Aufsatz "Dry Bones in the West" schreibt die Missiologin Rose Dowsett sinngemäss: "Kulturen sind nicht neutral – ganz einfach, weil sie ein Produkt der menschlichen Gesellschaft sind; und weil Menschen gefallene Wesen sind, wird alles, was sie produzieren, von der Sünde "angefressen" sein. Gleichzeitig sind Männer und Frauen aber im Bilde Gottes geschaffen, und weil – wie verzerrt auch immer – unauslöschliche Spuren dieses Bildes in jeder Person zu finden sind, wird es in jeder Kultur Elemente des Göttlichen wie des Dämonischen geben.
Die Frage ist nun: wie unterscheiden wir das eine vom anderen? Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn die Folgen des Falls werden Barrieren, die "Reste" der Gnade hingegen Brücken oder Einstiegs-Türen für das Evangelium sein."
Hier setzt die Aufgabe der kritischen Kontextualisierung ein. Diese Aufgabe ist nicht nur in Drittweltländern nötig, sondern genau so in unserer post-christlichen und postmodernen Kultur. Dowsett: "Es geht hierbei nicht einfach um eine Analyse: was ist gut, was ist schlecht, was ist neutral in einer Kultur? Sondern indem wir diese Unterscheidungen machen, erhalten wir wichtige Werkzeuge:
- Was können oder müssen wir bejahen?
- Was können die "Einstiegstore" für das Evangelium sein? Wie können wir sie nutzen?
- Was ist inkompatibel mit der biblischen Wahrheit und muss darum zurückgewiesen werden?
- Was hat das für Auswirkungen auf Evangelisation und Jüngerschaft?
- Was ist wirklich "neutral"? Kann das auch als Tür für das Evangelium genutzt werden?"
Diese kritische Kontextualisierung bewahrt uns vor zwei Extremen: entweder wird das "ewige Wort" auf die ewig gleiche Art gebracht, unabhängig, ob es gehört wird oder nicht (und wenn nicht, wissen wir ja, dass "die Welt es nicht wissen will") – oder wir passen uns in unserer Sorge, relevant zu sein, so sehr der Kultur an, dass wir von ihr "in ihre eigene Form gepresst werden" (vgl. Rö.12.2). Dazwischen liegt die Aufgabe der kritischen Kontextualisierung, die viel Gebet, Demut und Beharrlichkeit braucht und in der Menschen von innerhalb und ausserhalb der Kultur zusammenarbeiten müssen. Hier liegt übrigens eine der ganz grossen Chancen der Globalisierung der Kirche – Christen aus anderen Kulturen haben eine reiche Erfahrung, wie man als Minderheit das Evangelium in einer fremden Kultur lebt und sie von innen nutzt und überwindet.
Zurück zur Postmoderne...
Bevor wir uns konkret mit Barrieren und Brücken dieser Kultur beschäftigen, eine persönliche Beobachtung: ich glaube, dass Gott in den letzten Jahren schon Entwicklungen eingeleitet hat, die eine gute Ausgangsbasis bilden, uns der postmodernen Herausforderung zu stellen.
Ein Beispiel: der klassische Ansatz der Evangelisation bis in die 80er Jahre hinein war der paulinische. Der normale Weg zum Glauben war der über Sündenerkenntnis – Annahme des Opfers Jesu - Vergebung – neues Leben. Bevor der Mensch die "Good News" des Evangeliums überhaupt erleben konnte, musste er erst mal "bad news" akzeptieren, nämlich dass er Sünder und verloren ist. Überhaupt war Paulus quasi der Star-Theologe der Evangelikalen.
Nach meiner Beobachtung hat sich da in den letzten 10-15 Jahren einiges geändert. Mit dem Stichwort "Jüngerschaft" – ein un-paulinischer Begriff – begann man, auf Jesus zurückzugreifen. "Nachfolge", Orientierung auf die Person Jesus – und damit ein Prozess – tritt immer mehr an Stelle des starren Schemas "Sünde-Bekehrung-ab jetzt ist alles anders". Die Alpha-Kurse haben nicht zuletzt darum so viel Erfolg, weil sie diesem Prozess Rechnung tragen. Dazu kommt die Überzeugung, dass der einzelne Christ mit seiner Lebens-Qualität Zeuge für Christus ist – statt dass man alles auf Predigten abstellt, in denen "die Wahrheit" verkündigt wird. Das Wort kommt runter von den Kanzeln und wird immer mehr Fleisch.
Natürlich darf die Notwendigkeit der Lebenswende, dürfen Schuld und Vergebung nicht eliminiert werden. Aber sie sind nicht mehr das Haupt-Einstiegsthema – wer es dennoch versucht, wird in der postmodernen Kultur auf fast völlige Taubheit stossen (Ausnahmen bestätigen nur die Regel).
Das Evangelium ist faszinierend – es ist die Antwort auf die tiefsten Fragen in jeder Kultur, wie sie auch formuliert werden.
Im nächsten Kapitel werden wir uns nun der konkreten Frage zuwenden: wo sind in der postmodernen Kultur die Barrieren und wo die Brücken für das Evangelium?
Datum: 03.11.2003
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Focusuisse