"Der Fanatismus ist kein neues Phänomen"

Meistens friedlich: Echte Fans unterstützen ihren Club mit einer gesunden Begeisterung.

Es ist nicht gesichert, dass der Fanatismus im Sport und in der Religion wirklich zugenommen hat. Das meint der Basler Fachmann und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Roland Stettler.

Andrea Vonlanthen: Wie begegnen Sie bei einem Spiel des FC Basel jugendlichen Fans, die gewalttätig werden?
Roland Stettler: Obschon ich regelmässig die Heimspiele des FCB besuche, wurde ich noch nie Zeuge von Gewalt in meiner Umgebung. Im Sektor für Familien ist die Stimmung meistens friedlich. So stellt sich die Frage der Gewalt für mich bisher nur theoretisch. Wichtig ist, Konflikte möglichst frühzeitig wahrzunehmen und zu intervenieren. Hier ist Zivilcourage gefragt. Oft kann ein gewaltsamer Konflikt in den Anfängen noch aufgehalten werden, wenn genügend Menschen sich mutig dazwischen stellen.

Woran liegt es, dass der sportliche und der religiöse Fanatismus so um sich greifen?
Bereits in der Antike wurde über die Problematik von Zuschauerausschreitungen bei Sportanlässen geschrieben. Der religiöse Fanatismus ist uns aus der Zeit der Kreuzzüge bekannt. Fanatismus ist kein neues Phänomen, sondern scheint als eine Verhaltensmöglichkeit zum Menschen zu gehören. Es ist nicht gesichert, dass Gewalttaten im Umfeld von Fussballspielen tatsächlich zugenommen haben und brutaler geworden sind, wie dies die Berichterstattung der Medien suggeriert. Das Gleiche gilt für den religiösen Fanatismus, den wir deutlicher wahrnehmen, weil er näher zu uns gerückt ist und vermehrt mit uns fremden Religionen in Zusammenhang steht.

Wo liegt die Grenze zwischen Begeisterung und Fanatismus?
Fanatismus kennzeichnet sich durch Intoleranz gegenüber jeglicher anderslautenden Meinung oder Anschauung. Der Fanatiker ist oft aggressiv seiner Idee verhaftet und einer vernünftigen Argumentation wenig zugänglich. Er glaubt sich im Besitz der einen und einzigen Wahrheit. Wer sich für eine Sache begeistert, vertritt diese durchaus mit Lust und Freude, bleibt jedoch offen für Kritik und ist bereit, seine Haltung immer wieder zu hinterfragen.

Wie verbreitet ist der religiöse Fanatismus bei uns?
Aufgrund von Medienberichten sehen wir uns vor allem mit dem Islamismus konfrontiert. Von den Muslimen in der Schweiz praktizieren etwa 30 Prozent ihre Religiosität aktiv. Es wird davon ausgegangen, dass davon maximal 10 Prozent islamistischem Gedankengut nahe stehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass es auch christlichen Fanatismus gibt, der jedoch vor dem Hintergrund einer christlichen Kultur weniger deutlich in Erscheinung tritt.

Warum werden gerade jugendliche Fans immer aggressiver?
Die allermeisten Fans unterstützen ihren Club mit einer gesunden Begeisterung. Nur sehr wenige sind gewaltbereit und müssen der Hooliganszene zugerechnet werden. Hooligans rekrutieren sich aus allen sozialen Schichten. Meist haben sie zwei Identitäten: eine bürgerliche Alltagsidentität und ihre subkulturelle Hooliganidentität. Anwendung von Gewalt ist bei ihnen mit dem "Kick" verbunden, der ihnen im oft langweilig empfundenen Alltag fehlt. Durch die ständige Konfrontation mit Gewalt in den Medien findet auch eine gewisse Abstumpfung statt, so dass, um den gleichen "Kick" zu erleben, die Intensität der Gewalt tendenziell zunehmen muss.

Wie führen wir junge Menschen zu einer gesunden Begeisterung und nicht in den Fanatismus?
Hier möchte ich auf die Vorbildfunktion der Eltern hinweisen. Für was lassen sie sich begeistern und wie leben sie diese Begeisterung? Gewähren sie ihren Kindern genügend Freiraum, damit Interessen sich vielfältig entwickeln können? Nehmen sie die Kinder ernst, auch wenn deren Interessen nicht deckungsgleich mit den eigenen sind? Wird dem Kind die nötige Geborgenheit vermittelt, die es ihm ermöglicht, ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln? Wenn ja, so sind günstige Rahmenbedingungen geschaffen, dass wir uns an begeisterungsfähigen jungen Menschen werden erfreuen können.

Interview: Andrea Vonlanthen

Datum: 16.06.2004
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: Chrischona Magazin

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