WEF-Kritiker Jean Ziegler: Konzerne produzieren Leichenberge
„Wenn ein Kind heute am Hunger stirbt – dann wird es ermordet“, mahnt Ziegler in einem Interview mit dem «Hamburger Abendblatt». Ohne weiteres könnte die Landwirtschaft 12 Milliarden Menschen ernähren, wie der Welternährungsbericht belege, also fast doppelt so viele wie heute. Doch alle 5 Sekunden verhungere ein Kind unter 10 Jahren, und fast 1 Milliarde Menschen seien „permanent schwerstens unterernährt“. Zwar sei der Kapitalismus durchaus „die dynamischste Produktionsform, die es je gegeben hat. Andererseits steigen unter ihm die Leichenberge.“
Provozierte Massenarbeitslosigkeit
Die heutigen Konzernen hätte eine Machtfülle „wie sie in der Geschichte kein Kaiser, König oder Papst“ je hatten. 500 von ihnen kontrollierten 52 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts. Von keiner staatlichen Macht gebremst, lebe der „Dschungelkapitalismus“ sein Prinzip der Profitmaximierung hemmungslos aus und negiere damit „Werte wie Solidarität, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit“.
Die Abwanderung der grossen Firmen aus Europa bewirke eine „willentlich organisierte Massenarbeitslosigkeit“ mit einer neuen Armut. Schon in zehn Jahren, progostiziert Ziegler, könnten beispielsweise in Berlin Zustände wie in São Paulo oder Karatschi herrschen: „Fünf bis zehn Prozent der Bürger leben in Wohlstand, gut bewacht und abgeschirmt von Sicherheitskräften. Der Rest haust in Elendsvierteln.“
Verantwortung statt Naturgesetz
Doch sei der „Raubtierkapitalismus kein Naturgesetz“, sagt der Genfer, der für die SP im Nationalrat sass. „Das System ist von Menschen gemacht und kann von ihnen geändert werden.“ Als konkrete Schritte nennt Ziegler die Abschaffung des Schweizer Bankgeheimnisses, das zur weltweiten Steuerhinterziehung in grösstem Umfang animiere, die Entschuldung der Dritten Welt, eine Pflicht für die Konzerne, wieder Steuern zu zahlen, und Gesetze gegen Abwanderung ins Ausland. Immerhin hätten ja die Manager selber ihr Zuhause und ihre Familien im Westen, so dass solche Bestimmungen durchaus greifen könnten.
Clevere Feudalherren und naive Kirchenleute
Die wichtigsten Konzernchefs sind derzeit am Weltwirtschaftsgipfel WEF in Davos vertreten. Zusammen mit dem WEF führt der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) parallel dazu das «Open Forum Davos» durch, das sich als eine „Dialogplattform“ für Fragen der Globalisierung und der sozialen Gerechtigkeit versteht. Eine Einladung hat Jean Ziegler abgelehnt.
Gegenüber dem Zürcher „Kirchenboten“ nannte er als Begründung: „Die Kosmokraten, so nenne ich die neuen Feudalherren der Welt, wollen keinen ehrlichen, realitätsverändernden Dialog. Sie nutzen jede Chance für eine clevere Marketing-Darstellung, ohne aber ihre Geschäftspraktiken zu ändern.“
Die kirchlichen Initiatoren verfolgten mit dieser Veranstaltung sicherlich hehre Ziele, doch komme er, Ziegler, „nicht umhin, sie nach den bisherigen WEF-Erfahrungen“ als „blauäugig und naiv“ zu kritisieren.
Weiterführende Links:
„Keiner müsste an Hunger sterben“
«Kein Dialog mit den Feudalherren»
Jean Ziegler über das Recht auf Nahrung, Oktober 2005
www.un.org/News/briefings/docs/2005/051028_Ziegler_PC.doc.htm
Debatte der UN-Menschenrechtskommission über Hunger in der Welt, April 2004
www.un.org/News/Press/docs/2004/hrcn1064.doc.htm
Datum: 26.01.2006
Quelle: Livenet.ch