Fromme Phrasen

Braucht es manchmal «besondere Gnade»?

Gnade für bedürftige Menschen
Was ist, wenn Menschen Hilfe suchen, die besonders bedürftig, traurig, anspruchsvoll oder problematisch erscheinen? Ihnen gegenüber fällt manchmal der Satz: «Da braucht es besondere Gnade.» Aber stimmt das auch?

«Gnädig» ist ein Adjektiv, es beschreibt also eine Eigenschaft. Rein grammatikalisch lässt es sich auch steigern: gnädig, gnädiger, am gnädigsten. Doch treffen diese grammatikalische Möglichkeit und unsere menschliche Wahrnehmung – wir können tatsächlich dem einen gnädiger und der anderen ungnädiger sein – auch auf Gott zu? Brauchen manche Menschen seine besondere Gnade?

Gnade ist mehr als ein Heilmittel

Wenn es eine normale und eine besondere Menge an Gnade Gottes gibt, ist die Frage: Wie viel ist denn normal? Existiert ein Handbuch, in dem vermerkt ist, wann wie viel Gnade angewandt werden muss – vergleichbar mit dem Beipackzettel in Medikamenten? Dort bekommen wir den Hinweis, dass wir zum Beispiel bei Kopfschmerzen maximal 2'400 mg Ibuprofen pro Tag einnehmen sollten, verteilt auf drei tägliche Einzeldosen von höchstens 800 mg. Kinder oder besonders kleine und leichte Menschen brauchen deutlich weniger des Wirkstoffs. Ist das bei Gnade vielleicht ähnlich? Steht irgendwo: «Bei stärkeren Problemen verdoppeln Sie bitte die Dosis»? Nein, natürlich nicht, denn anders als in mancher Wahrnehmung ist Gnade nicht die Salbe oder Tablette Gottes, die wir je nach Bedarf in der Seelsorge zuteilen, sie ist eher wie die Einladung zu einem Fest Gottes – das Zusprechen: Du gehörst dazu.

In einem der vielen neutestamentlichen Bilder dazu erzählte Jesus: «Ein Mensch machte ein grosses Mahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht zur Stunde des Mahles, um den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist schon alles bereit!…» (Lukas, Kapitel 14, Vers 16 ff.) So ähnlich wie der Knecht in dem Beispiel sind wir nicht die Verwalter der Gnade, die sie in kleineren oder grösseren Dosen zuteilen, sondern geben die Einladung weiter – an alle gleichermassen.

Gnade ist masslos

Vielleicht stammt die Idee von einer Einteilung und Gewichtung der Gnade Gottes aus dem Epheserbrief. Dort schreibt Paulus in Kapitel 4, Vers 7: «Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade gegeben nach dem Mass der Gabe des Christus.» Wird Gnade also doch zugeteilt? Vom Zusammenhang her ist klar, dass hier nicht die grundständige Gnade Gottes angesprochen ist, sondern seine Gnadengaben, besondere Befähigungen, die Gott seinen Leuten anvertraut «für die Erbauung des Leibes des Christus» (Vers 12). Doch selbst in diesem anderen Zusammenhang ist nicht die Rede von einer unterschiedlichen Gewichtung, die wir als Menschen vornehmen. Da braucht es besondere Gnade? Tatsächlich, aber für jeden von uns.

Gnade brauchen in erster Linie die Gebenden

Wenn es stimmt, dass Menschen die Gnade Gottes brauchen, aber eben nicht mehr davon, weil sie kein dosierbares Medikament ist, dann rührt das Gefühl, dass in einer bestimmten Situation Gottes besondere Gnade nötig ist, eher von uns selbst her – von denen, die diese Gnade weitergeben möchten. Kann es sein, dass wir unsere eigene Begrenztheit wahrnehmen? Unseren Mangel an Liebe und Empathie? Unsere fehlende Zeit? Kann es sein, dass es uns schwerfällt, in hilfebedürftigen Menschen um uns herum Jesus selbst zu sehen – und nicht nur Problemfälle (siehe Matthäus, Kapitel 25, Vers 40)?

Wenn das so ist, dann braucht kein Hilfsbedürftiger «mehr» Gnade, noch nicht einmal wir selbst. Dann brauchen wir alle zusammen die Perspektive, dass wir auf Gottes Gnade angewiesen sind – und dass diese ausreicht. Wie drückte das der Zöllner aus, der zum Beten in den Tempel kam? «O Gott, sei mir Sünder gnädig!» (Lukas, Kapitel 18, Vers 13). Sein Gebet wurde erhört!

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Datum: 18.01.2023
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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