Auf dem Crasta Mora verschüttet

In der Lawine schrie er zu Gott

Als sie zum Stillstand kam, war Ueli Bruderer im Schnee wie eingemauert. «Jesus, du siehst, wo ich bin!», schrie er noch. Dann verlor er das Bewusstsein mitten in der Lawine.
Ueli Bruderer (Keine Angst mehr vor Hunden. Ueli Bruderer (r.) mit seinen Rettern Gian Paul Caratsch und Lawinenhund Pol.)
Schneelawine Crasta Mora im Engadin. Hier lag Ueli Bruderer unter den Schneemassen.

Extrem windig ist es am Crasta Mora. Auf dem flachen Grat müssen Ueli Bruderer, 62, und Martin Zbinden, 54, streckenweise kriechen – derart stark ist der Wind. Der Crasta Mora im Engadin gilt als relativ lawinensicher. Bruderer und Zbinden kennen ihn gut: Schon fünf Mal sind sie mit den Tourenskiern auf dem 2952 Meter hohen Berg gewesen. Sie ahnen nichts von der Gefahr.

Kampf ohne Chance

So kalt ist es auf dem Grat, dass die beiden schon nach wenigen Minuten die Abfahrt antreten. Bruderer macht ein paar erste Schwünge und will dann stoppen. Doch er kann nicht. «Das war der erste Schreck», erinnert er sich. «Ich merkte, dass etwas passiert – der Instinkt sagte mir: Reiss sofort die Ski heraus und weg!» Doch er kommt nicht mehr aus den sich bewegenden Schneemassen heraus. Das ist sein zweiter Schreck: ausgeliefert! Die Lawine reisst ihn mit, treibt ihn auf zwei Felsblöcke zu. Bruderer versucht, zwischen ihnen hindurchzusteuern. Doch in diesem Moment staut sich die Lawine, und der Schnee deckt ihn zu. Es ist 15.05 Uhr. Die Lawine hat auch Zbinden erfasst, ihn jedoch nur bis zur Hüfte zugedeckt. Mit der Schaufel aus seinem Rucksack kann er sich ausgraben. Er ruft nach Ueli – keine Antwort. Die Lawine ist 80 Meter breit und 250 Meter lang. Nichts ist zu sehen. Suchgeräte haben die Beiden nicht bei sich. Martin Zbinden erkennt, dass er keine Chance hat, den Freund selber zu finden. Er beschliesst, nach La Punt hinunterzufahren und Hilfe zu holen.

Schreie im Schnee

«Ich hörte ein grosses Rauschen und wurde einfach beerdigt», beschreibt Ueli Bruderer den Moment, in dem er von der Lawine zugedeckt wird. «Und dann fühlt man einen furchtbaren Druck. Schnee überall, auch vor seinem Gesicht.» Unbeschreibliche Panik. «Ich will mir Luft verschaffen, rüttle mit dem Kopf, versuche, die Hand zu bewegen. Doch es geht nicht. Lawinenschnee ist wie Beton.» Ueli ruft nach Martin. Nach jedem Schrei ringt er nach Luft. Durch den Schnee dringt nur wenig Sauerstoff. Dann schreit er zu Gott: «Jesus, du siehst, wo ich bin!» Er ringt nach Atem. «Wenn du willst, dass ich einen neuen Auftrag erfülle ...» Wieder ringt er nach Atem. «... dann musst du mich hier herausholen!» Er wiederholt sein Stossgebet – dann verliert er das Bewusstsein.

Nein, ein Lebensfilm sei nicht vor ihm abgelaufen. «Dazu hatte ich keine Zeit. Ich musste Gott anrufen, solange ich noch konnte.» Nur etwa drei oder vier Minuten, schätzt er, sei er bei Bewusstsein geblieben.

Ganzer Einsatz

Bis La Punt braucht Martin Zbinden fünf Viertelstunden. Er stürmt ins Hotel, wo er und Bruderer in den Ferien sind, und telefoniert der Rettungsflugwacht. Um 16.25 Uhr starten in Samedan zwei Hubschrauber. Einer landet kurz in La Punt, um Zbinden aufzunehmen. Dann fliegen sie hinauf zum Crasta Mora. Die Helfer wissen: Nach so langer Zeit sind die meisten Verschütteten bereits tot. «Wir sind jetzt an der Unfallstelle angekommen», melden die Retter per Funktelefon ins Hotel, wo Bruderers Frau und die Freunde bangen und beten. Fünf Hundeteams sind im Einsatz, darunter auch Hundeführer Gian Paul Caratsch und sein Deutscher Schäfer Pol. In 35 Jahren hat Caratsch 60 Lawineneinsätze mitgemacht. Erst einmal hat er einen Verschütteten lebend gefunden.

Körpertemperatur 33 Grad

Pol ist es, der Ueli Bruderer nach 15 Minuten ortet. Die Helfer graben und legen seinen Kopf frei. Er sitzt aufrecht im Schnee – und er lebt! «Die Retter haben mir gesagt, ich hätte gebrüllt wie ein Stier», erzählt Bruderer. Er selber kann sich daran nicht erinnern. Nur unbewusst realisiert er seine Rettung. Noch können die Retter nicht sagen, ob der Mann überlebt. Seine Körpertemperatur beträgt noch 33 Grad, doch er ist unverletzt. Um 17.40 Uhr startet der Hubschrauber. 12 Minuten später ist Bruderer im Kantonsspital Chur. Das Erste, woran er sich wieder erinnert, ist ein silbern schimmernder Sack, in dem er liegt, und aus dem ihm warme Luft entgegenströmt. «Er ist gut ansprechbar», meldet der Arzt nach La Punt. Und: «Wir haben keine Schäden gefunden.» Zwei Stunden und zwanzig Minuten war Ueli Bruderer verschüttet. Nach so langer Zeit beträgt die Überlebenschance noch etwa 3 Prozent.

Ein Entrecôte für Pol

Drei Tage später kehrt der Gerettete mit seiner Frau ins Engadin zurück. Im Hotel gibt’s ein kleines Fest. Bruderer spendiert zwei Entrecôtes – eines für Caratsch und eines für Pol. Er lacht und zeigt den offiziellen Flugrapport der Rega. Darauf heisst es über seine Rettung: «Überlebt wie durch ein Wunder.»

Datum: 07.07.2005
Autor: Fritz Herrli
Quelle: 4telstunde für Jesus

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung