Spiritualität und die Angst vor der Zukunft

Spiritualität kann auch zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. Das betonte der Basler Futurologe und Strategieberater Andreas Walker an der zehnten Eidgenössischen Besinnung «Vision für die Schweiz» in Bern. Darum müsse der christliche Glauben mehr in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.
Spiritualität als Chance: Referent Andreas Walker und CVP-Nationalrätin Elvira Bader, Präsidentin der Parlamentarischen Gruppe „Vision für die Schweiz“, an der Berner Besinnung.
Spiritualität kennt keine Parteigrenzen: Nationalrat Adrian Amstutz (SVP, BE) und Ständerat Theo Maissen (CVP, GR).

«In der nationalen Politik gibt es Grund genug, sich auf bewährte Schweizer Werte zurückzubesinnen», meinte CVP-Nationalrätin Elvira Bader. Die Präsidentin der Parlamentarischen Gruppe «Vision für die Schweiz» konnte am 3. Oktober rund 60 Verantwortungsträger aus Politik, Wirtschaft, Militär und Kirchen begrüssen.

Neuer Kulturkampf?

Im Grusswort von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, wegen der Blocher/Roschacher-Kontroverse an der Teilnahme verhindert, war von der zunehmenden Bedrohung aufgeklärter Demokratien durch religiösen Fanatismus die Rede. Immer häufiger würden Menschen ausschliesslich auf eine Religion oder eine Kultur festgelegt. Vereinfachungen, die gefährliche Konsequenzen haben könnten. Heute komme der Eindruck auf, wir ständen vor einem neuen Kulturkampf zwischen Christen und Muslimen, schrieb Calmy-Rey. Wer in Friede und Würde zusammenleben wolle, müsse sich auf den Dialog einlassen. «Was uns als Schweizer eint», so die Bundespräsidentin, «ist der Wille, jeden Einzelnen und jede Gruppe in ihrem Anderssein zu respektieren, und gleichzeitig der Wille, die gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam in die Hände zu nehmen.»

Werte und Überzeugungen schafften Selbstbewusstsein. Wir müssten wissen, was Menschen unterscheidet, aber auch, was Gläubige verbindet. Religionsfreiheit gelte für alle. Auf dieser Basis könne sich die Vielfalt der Religionen und Kulturen in unserem Land «zu einem Quell des geistigen, menschlichen und materiellen Reichtums weiterentwickeln». So werde die Rolle des Glaubens in der Gesellschaft zur Chance und nicht zum Risiko.

Gottlose Ideologie

Die Frage stellte sich auch der Hauptreferent: «Spiritualisierung der Gesellschaft - Chance oder Risiko?» Andreas Walker definiert Spiritualität als Sehnsucht nach Transzendentem, Ewigem, Göttlichem. Spiritualität versucht, eine Beziehung zu dieser höheren Wirklichkeit aufzubauen. Früher sprach man von «Religion». Marx verstand darunter «Opium für das Volk». Der Begriff wird heute gerne vermieden. Man denkt dabei schnell an Kirche als Institution und an Dogmatik. Walker stellt fest, Schule, Wissenschaft und Medien trauten aufgeklärten und gebildeten Menschen eine objektive Sichtweise zu, die ohne Gott auskomme. «De facto sind wir einer Ideologie von Gottlosigkeit oder mindestens Gottirrelevanz im öffentlichen Leben gefolgt und haben dies als absolutes Paradigma akzeptiert.» Aufklärung und Gewaltentrennung zwischen Kirche und Staat brachten es mit sich: Religion wurde in die Kirche und ins Privatleben verwiesen. Gott wurde aus der öffentlichen Diskussion verbannt. Eine Entwicklung, die gerade für den Islam undenkbar wäre.

Blühender Aberglaube

In der Postmoderne zeigen sich zunehmende Ängste vor Katastrophen und Pandemien. Wissenschaft und Technik haben trotz grossen Fortschritten offensichtlich nicht alles im Griff. Die Menschen öffnen sich für irrationale Verschwörungstheorien und alle Formen von Aberglauben. Religionsführer werden plötzlich wie Popstars gefeiert. Der Papst wird nur noch vom Dalai Lama überrundet. Die Medien interessieren sich zunehmend für das Intimleben der Prominenz. Dadurch kehrt die Spiritualität in die öffentliche Wahrnehmung zurück. Aber auch die Angst vor dem Islam nach dem 11. September 2001 macht Religion wieder zum Thema.

Zentrale Werte unserer Gesellschaft sind materieller Wohlstand und Gesundheit. Da kann laut Walker der Eindruck aufkommen, Spiritualität sei zum integralen Bestandteil des Wellnesstrends geworden: «Ein bisschen Seelenmassage, in homöopathischen Dosen verabreicht, und gesellschaftlich absolut harmlos.» Besonders umworben: die Rentner, die ewig jung sein möchten. Sie wollen den Lebensabend geniessen, dann aber mit gutem Gewissen sterben. Sie interessieren sich für Philosophien und Produkte mit spirituellem Mehrwert. Walker: «Wer bietet ihnen auf dem Weg der letzten Lebensjahre eine ehrliche Hilfe an?»

Freiheit statt Abhängigkeit

Die Zukunft bringt eine weiter zunehmende Globalisierung und Mobilität. Dadurch verstärkt sich die Vermischung von Werten und Kulturen. Die Wertediskussion gewinnt an Bedeutung. Walker betont: «Gemeinsam vereinbarte Werte sind die Paradigmen, auf denen unser gemeinsames Leben funktionieren soll.» Doch wer definiert und vermittelt künftig solche Werte? Walker wirft den Blick auf die Bibel: «Jesus Christus beansprucht, derjenige zu sein, der uns frei macht.» Hilfreiche Spiritualität führt demnach in Freiheit, Mündigkeit und Selbständigkeit und nicht in neue Formen von Abhängigkeit und Ungerechtigkeit.

Die grossen Fragen

«Finden wir mit Hilfe von Spiritualität zeitlose Werte für wertlose Zeiten?» Die grosse Frage an die Gesellschaft. Aber auch: «Verhilft uns die Spiritualität zu Erkenntnissen und Vollmacht, um anstehende gesellschaftliche Probleme zu bewältigen?» Die Grenzen des technologischen Machbarkeitswahns und des Materialismus werden immer deutlicher erkannt. Walker fragt sich, ob das Pendel nicht ins Gegenteil kippt: «Könnte uns heute das Szenario drohen, dass Spiritualität in der Postmoderne zu einem esoterisch-abergläubischen Sumpf verkommt, der einerseits willkürlich und anderseits gesellschaftlich einfach wertlos wird?»

Tiefgang in der eigenen Spiritualität ermöglicht nach Walkers Überzeugung der Glaube an Jesus Christus. Eine Spiritualität, die aus einer alten Tradition und Erfahrungen aus Bibel und Kirchengeschichte schöpfen kann. Themen dieser Art müssten «auf hoher und offizieller Ebene» diskutiert werden. Walker wünscht sich weitergehende «Thinktanks», um Beziehungen zu knüpfen und vertieften Gedankenaustausch pflegen zu können. Ziele christlicher Spiritualität seien Friede und Gerechtigkeit, seien die Liebe zum Nächsten, auch die Liebe zum Feind.

Eine wichtige Voraussetzung sei die Vertrauensbildung. Die Gesprächpartner müssten aber von ihren Kirchtürmen und Minaretten heruntersteigen: «Wenn Spiritualität zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen soll, dann brauchen wir Beziehungen und Kommunikation über die Mauern von Kirchen, Tempeln und Moscheen hinweg. Auch über die Mauern der beiden grossen Landeskirchen und der vielen kleinen Freikirchen hinweg.» Jeder Christ aber sei gefordert, an seinem Platz die Beziehung zwischen seiner Spiritualität und seiner Arbeit zu leben.

Als Schwuler outen ...

Walker bat um mehr Toleranz für die christliche Spiritualität: «Wenn ich mich jetzt als schwul outen würde, dürfte ich mit dem Wohlwollen der Medien und der Elite rechnen. Das wäre chic, weltoffen und liberal. Wenn ich mich aber als Christ outen würde, müsste ich befürchten, dass ich beinahe wie bei einer Inquisition in undifferenzierter Weise als gefährlicher Fundamentalist vorverurteilt und stigmatisiert würde.» Walker bat speziell auch die Bundespräsidentin, den Angehörigen der verschiedenen Spiritualitäten eine echte Chance zu geben. Es gelte, gerade den christlichen Glauben vermehrt in die öffentliche Diskussion einzubringen. So könnten Christen mithelfen, an den Herausforderungen unserer Zeit zu arbeiten und wichtige Grundlagen für die Zukunft unserer Kinder zu legen.

Nun machten die Verantwortungsträger deutlich, dass ihnen an der gelebten christlichen Spiritualität liegt: Mehrere Segensgebete und das Unservater beendeten einen gehaltvollen Anlass. - Wer sagt der Bundespräsidentin, dass sie mit Bestimmtheit etwas verpasst hat?


* * *

Segensgebet

Nationalrat Urs Bernhardsgrütter (Grüne, St. Gallen) sprach am Schluss dieses Segensgebet:
«Gott - schenke uns deine Kraft und deinen Geist, um unsere Aufgaben in Zuversicht, Gelassenheit und Vertrauen angehen zu können. Erfülle uns mit dem Heiligen Geist und mit Weisheit für unsere politischen und privaten Entscheidungen.
Gott segne unsere Hände, dass sie jedem geben, was ihm zusteht, dass sie loslassen, was frei sein will.
Gott segne unsere Füsse, dass sie denen entgegengehen, die auf unser Entgegenkommen warten.
Gott segne unsere Augen, dass sie sehen, wo Not ist und wo unser Handeln wichtig ist.
Gott segne unsere Ohren, dass sie zuhören, wo das Zuhören nicht einfach ist, und dass sie offen sind für die wirklichen Anliegen.
Gott segne unseren Mund, dass er die Wahrheit spricht und ein Lächeln hat. Amen.»

 

Bearbeitung: Livenet

 

Artikel zum Thema:
«Ich möchte im Glauben weiterkommen»: Elvira Bader persönlich
Spirituelle Intelligenz - Kommentar von Alfred Aeppli

Datum: 30.10.2007
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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