Religion nein, Religionen ja: Zürcher Bildungs-Wirrsinn

"Gratwanderung": Tagungsleiter Matthias Pfeiffer
Vor einem Gang nach Lausanne? Cla Reto Famos
Religion nicht auf Fakten reduzieren: Karl-Ernst Nipkow

An der Oberstufe im Kanton Zürich sollen die Religionen im neuen Fach ‚Religion und Kultur’ nebeneinander, objektivierend-sachlich und wertfrei dargestellt werden. Wie dies geschehen soll, ist jedoch nicht klar. Eine Tagung, die am Freitag und Samstag an der Universität Zürich stattfand, zeigte die komplexen Spannungsfelder und hohen Hürden auf, die der erfolgreichen Einführung des Fachs im Wege stehen.

Zu denken gibt, dass die Voraussetzungen für einen hilfreichen religionskundlichen Unterricht an der Oberstufe von den Verantwortlichen des bevölkerungsreichsten Kantons der Schweiz selbst zerstört werden: Der Unterbau, das entsprechende Fach in der Primarschule, wird nach dem Beschluss der Zürcher Regierung nämlich weggespart (was in Pädagogenkreisen anhaltendes Kopfschütteln verursacht). – Aber mit dem neuen Oberstufenfach geht es nun sowieso vorwärts; da scheut man Kosten nicht.

Wie integrieren?

Der Bildungsrat beschloss das neue Fach im Sommer 2000. Die von ihm bestellte Kommission hat am letzten Donnerstag ihren Konzept-Bericht verabschiedet. Sie fand an einem entscheidenden Punkt keinen Konsens: Wie soll das erklärte Ziel des Bildungsrats, „die grossen in unserer Gesellschaft präsenten Religionen und Anschauungen gleichermassen zu berücksichtigen“, umgesetzt werden? Was heisst ‚gleichermassen’? Gleich viele Lektionen?

Die Schwierigkeit, die Fragen zu beantworten, hängt mit unterschiedlichen Leitvorstellungen zusammen. Die Vision einer multikulturellen Gesellschaft, die für den Bildungsrat massgeblich war, verblasst. Die Integration zugewanderter Menschen und ihrer Gemeinschaften wird als eine zentrale Aufgabe des Gemeinwesens gesehen. Nach dem 30. November 2003 ist aber klar, dass das Zürcher Stimmvolk keine öffentlich-rechtliche Anerkennung islamischer Gemeinschaften will.

Religionen ‚wertfrei’ unterrichten

Dabei bleibt die zentrale Aufgabe des Fachs, „Religion als grundlegenden Bestandteil von Allgemeinbildung sichtbar zu machen und dabei Ziele der interreligiösen Toleranz zu verfolgen“, wie der Leiter der Kommission, der Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, formuliert. Ihm schwebt als Ziel vor, „Verständnis für religiösen Glauben angesichts sehr verschiedener Glaubenssysteme“ zu vermitteln.

Im Vortrag von Oelkers, der wegen seiner Grippe-Erkrankung den Tagungsteilnehmern schriftlich abgegeben wurde, heisst es: „Ein pluralistischer Unterricht, der auf faire Weise bekannt macht mit verschiedenen Religionen, kann nicht die Vor- und Nachteile dieser Religionen darstellen, sondern sie wirklich nur darstellen, wertfrei, um es mit einem Wort zu sagen, das … Unmut hervorruft, aber unvermeidlich ist.“

Zwang: in der Schule ja – und darum auch bei Religion?

Der Kanton Zürich, der sich seiner ins 19. Jahrhundert zurückreichenden liberalen Tradition rühmt, will das neue Fach ‚Religion und Kultur’ obligatorisch machen, um Integrationswirkung zu erzielen. Auch für die Landeskirchen macht aus ebendiesem Grund nur ein obligatorisches Fach Sinn! Wie der Kirchenrechtler Cla Reto Famos an der Tagung darlegte, wäre somit „eine Dispensation ebenso wenig möglich wie bei Mathematik“.

Der führende Tübinger Religionspädagoge Karl-Ernst Nipkow strich in seinem Referat heraus, dass im Unterschied zu anderen Modellen in Europa hier nicht einmal die Möglichkeit bestände, eine Alternative zu wählen. Laut Famos ist davon auszugehen, dass dieser Zwang auf Widerstand stossen wird und schliesslich das Bundesgericht urteilen muss, ob nicht eine unzumutbare Einschränkung der Religionsfreiheit vorliegt. Die Freikirchen, die traditionell auf diese Freiheit pochen, sind – anders als Hindus und Buddhisten – in der Kommission des Bildungsrats gar nicht vertreten…

„Gratwanderung“

Das neue Fach ist in vielen Hinsichten eine „Gratwanderung“, sagte Matthias Pfeiffer, Dozent an der Pädagogischen Hochschule. Er hatte die Tagung gemeinsam mit Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie, und weiteren Pädagogen und Theologen organisiert, die mit der Ausgestaltung des neuen Fachs und der Ausbildung der Lehrer betraut sind (die Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule soll im Herbst beginnen). Ziel der Tagung war, das Zürcher Konzept mit anderen Modellen des Religionsunterrichts im pluralistischen Umfeld zu konfrontieren und es den Anfragen führender deutscher Religionspädagogen auszusetzen.

Als erster referierte am Freitagnachmittag Karl-Ernst Nipkow. Er warnte davor, bei der Vermittlung von Fakten über Religion „Überzeugungen und ganzheitliche innere Erfahrungen, die den ganzen Menschen erfassen“, an den Rand zu drängen. Die Politik sei heute vor allem daran interessiert, in den Religionen „Ethik abzuschöpfen“. Sie wolle Anhaltspunkte für das Miteinander in der Gesellschaft gewinnen; daran dürfe sich die Schule aber nicht ausrichten.

Warnung vor blutleerem Unterricht…

Nipkow forderte einen Unterricht, der die verschiedenen Ebenen und Dimensionen von Religion erschliesst (und äusserte Unverständnis für den erwähnten Sparbeschluss der Zürcher Regierung). Es könne nicht darum gehen, etwa Gottesvorstellungen von der Antike bis zur Neuzeit zu vermitteln, sagte der Nestor der evangelischen Religionspädagogik: „Ein Unterricht über Religion darf nicht den Abstraktionen anheimfallen, nicht auf seine Weise willkürlich das nur abstrahieren, was sich gut behandeln lässt, weil es vielleicht weltanschaulich neutral zu behandeln ist (wobei sich auch eine philosophische Ethik über sich selbst täuschen kann).“

…und vor religiöser Halbbildung

An die Adresse der Zürcher fragte Nipkow, wie denn die Frage nach Wahrheit ausgeschlossen werden könne. Und hielt fest: „Ihr Fach muss auch, wenn es schon existentielle Erfahrung und Erschliessung ins Auge fasst, auch gerade das gewichtige Thema Gott in allen Tiefen behandeln, damit das neue Fach nicht religiöse Halbbildung produziert – und nicht Beliebigkeit im Hantieren mit Begriffen. Wenn schon ein Sinn für Religion auch angestrebt wird, muss mit Rückfragen gerechnet werden, die die Wahrheitsfrage berühren."

Offenheit nicht möglich ohne Standpunkt

Im Weiteren äusserte sich Nipkow kritisch zur Absicht, die Religionen nebeneinander zu stellen. Er plädierte für eine „Offenheit nicht zulasten des Eigenen, ein Verständnis inmitten des different Bleibenden“. Zuerst müssten Kinder sich der eigenen Religion vergewissern, dann erst könnten sie sich für Fremdes öffnen, sagte der Gelehrte und zitierte den Erkenntnistheoretiker Dieter Mersch: „Unverständliches zeichnet sich immer nur im Horizont von Verständlichem ab. Darum setzt die Andersheit des Anderen einen Standpunkt voraus, von dem aus erst das Andersartige als andersartig erscheinen kann.“

Livenet wird den zweiten grossen Vortrag der Tagung, gehalten vom Tübinger Erziehungswissenschaftler Friedrich Schweitzer, in Auszügen dokumentieren.

Datum: 03.02.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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