Der Kult um das Kind

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Kann es denn in der Erziehung überhaupt ein Zuviel geben? Ein Zuviel an echter Liebe sicher nicht. Aber als Liebe deklarierte Verzärtelung gewiss. Es ist in unserer Zeit und Gesellschaft allerdings nicht einfach, der Verwöhnungsfalle zu entgehen. Dass Verwöhnung geschehen ist, stellt man oft erst im Nachhinein fest, wenn die Folgen sichtbar werden.

Das Buch des Sozialpädagogen Albert Wunsch, “Die Verwöhnungsfalle”, zeigt auf, wie fatal es sich auf das spätere Leben der Kinder auswirkt, wenn sie in einer Art Treibhausatmosphäre aufwachsen. Alles wird ihnen zu Füssen gelegt. Sie lernen weder Zuverlässigkeit noch Verantwortung und können sich somit auch nicht bewähren. Später, in der rauen Zugluft des realen Lebens, scheint ihnen die Welt feindlich.

"Glashaus"-Kinder haben es später schwer im Leben

Durch Verzärtelung werden die Kinder untüchtig gemacht zum Leben. Nichts entmutigt so sehr wie Verwöhnung. Ausserhalb des “Glashauses”, in dem man aufwuchs, muss man Verantwortung übernehmen, und das hat man nie gelernt. Das fehlende Herausfordern der Fähigkeiten der Kinder führt dazu, dass diese später ihren Platz in der Gesellschaft auf Kosten anderer einzunehmen suchen. Man möchte grösstmögliche eigene Bequemlichkeit bei gleichzeitig übermässiger Erwartung an andere. Im Buch von Alfred Wunsch findet sich dazu ein treffendes Beispiel:
“Verwöhnte verhalten sich wie die Gäste innerhalb einer Parabel aus China, wo ein wenig begütertes Hochzeitspaar die Gäste gebeten hatte, Wein mitzubringen und in ein Behältnis am Saaleingang zu giessen. Beim Anstossen auf das Wohl der Vermählten wurde jedoch offenkundig, dass alle Wasser mitgebracht und gehofft hatten, dass es nicht auffalle. – So hoffen auch Verwöhnte, Nutzniesser der Eingaben anderer sein zu können, und genauso verwässert oder substanzlos sind ihre Beziehungen.”

Minderwertigkeitsgefühle und falsche Selbsteinschätzung

Fehlende Herausforderung des Kindes führt zu Minderwertigkeitskomplexen, zu falscher Selbsteinschätzung und zur Flucht aus der Realität. Menschen, die als Kinder verwöhnt wurden, leben später auf einer Art Zuschauertribüne. Aus Furcht vor Niederlagen packen sie nichts an. Sie geben sich hilflos, um so Unterstützung und Zuwendung zu erlangen. Ein verwöhnender Erziehungsstil begünstigt zudem die spätere Ausbildung von Neurosen, da sich keine Eigenständigkeit entwickeln kann. Der neurotische Mensch fühlt sich missverstanden, denn er misst alles, was ihm begegnet, an seiner Kindheitserfahrung, wo ihm alle Steine aus dem Weg geräumt wurden.

Die Kultur des "Nehmens"

Wir beobachten ja mit Besorgnis, dass in unserem Sozialstaat nicht nur wirklich Bedürftige in den Genuss von Sozialhilfe kommen, sondern dass immer mehr auch verwöhnte Abzapfer das für Notfälle geschaffene System missbrauchen und damit gefährden. Ein deutscher Politiker brachte es auf den Punkt, als er sagte: “Das soziale Netz ist keine Hängematte, sondern eher ein Trampolin, es soll auffangen, auf die Beine helfen und nicht zum Dauerverweilen einladen.”

Wir leben in einer Kultur des Nehmens ohne Gegenleistung. Das kann nur schief gehen. Das “Hotel Mama” ist für viele zur Selbstverständlichkeit geworden. War es früher normal, nach dem Schulabschluss oder der Berufslehre für sich selbst aufzukommen, nehmen heute junge Leute, die längst flügge sind, die Annehmlichkeiten von “Hotel Mama” noch jahrelang kostenlos in Anspruch, inklusive individuellem Zimmerservice ohne Eigenleistung.

Der Kult ums Kind

Spielzeugindustrie und Mode machen Jagd auf die Kinder, kaum dass sie Mama und Papa stammeln können. Später, im Schulalter, geraten die Kinder zunehmend unter Konsumdruck und einen eigentlichen Markenterror, wie er früher unbekannt war. Wer das falsche Outfit, die falschen Jeans, Joggingschuhe oder Handys hat, wird bald einmal ausgegrenzt. Cool und lässig muss man sein, um dazuzugehören. Die Mädchen körperbetont und nabelfrei, Piercing inklusive, die Jungen mit “Grossraumhosen” und unförmigen Schuhen. So schlurfen sie durch die Gegend. Aus Angst, ihr Kind könnte diskriminiert oder abgelehnt werden, geben Eltern dem Drängen ihrer Sprösslinge nach und erfüllen Wünsche, die äusserst fragwürdig sind. Gerade heutzutage, wo viele Ehen auseinander gehen, ist die Gefahr gross, die Kinder zu verwöhnen, um sie über den Trennungsschmerz hinwegzutrösten und die eigenen Schuldgefühle zu überdecken.

Laut “Spiegel” sind bereits Jugendliche mit technischen Geräten bestens versorgt. So sollen in Deutschland von den 3,7 Millionen Teenagern im Alter von 14 bis 17 bereits 62 Prozent einen eigenen Fernseher besitzen und mehr als ein Drittel einen Videorecorder.

Falsche Liebe

Man verwechselt Liebe heute gern mit materieller Verwöhnung. Die echten Bedürfnisse der Kinder, nämlich Zuwendung und Zeit, werden ignoriert. Sie bekommen alles, aber nicht das, was sie wirklich brauchen. Wer Kindern jeden Wunsch erfüllt, ihnen sämtliche Unannehmlichkeiten erspart, Aufgaben und Konflikte für sie löst, alle Schwierigkeiten von ihnen fern hält, der nimmt ihnen die Chance, eine eigenverantwortliche Persönlichkeit zu werden, die dem Leben in der Gesellschaft gewachsen ist. Wir sollten ihnen Herausforderungen zumuten, sie dabei begleiten und ermutigen. Indem wir ihnen klare Orientierung bieten, Grenzen setzen und sie wohlwollend unterstützen, werden sie zu lebenstüchtigen Menschen heranwachsen.

Falsch verstandene Fürsorge

Verwöhnte Schüler stellen die Lehrer vor grosse Probleme. Weil den Kindern jede Leistungsanforderung unbekannt und zuwider ist, verweigern sie sich in der Schule. Zuhause wird ihnen ja auch nichts abverlangt. Viele Eltern fallen den Lehrern gar in den Rücken, wenn diese auf Nichteinhalten der Regeln mit Konsequenzen reagieren. Fast reflexartig stellen sie sich vor ihren Nachwuchs und fordern Sonderbehandlungen und Milde. Laut dem “Schweizerischen Beobachter” klagte ein Vater den Lehrer seines Sohnes wegen Aufsichtspflichtverletzung an, weil ihn dieser vor die Tür gestellt hatte. “Ich habe kein Verständnis für Eltern, die bloss als Chauffeure, Seelentröster und Geldbeutel amten, und im Störfall engagierten Erziehern mit juristischen Spitzfindigkeiten in den Rücken fallen”, ärgert sich der Lehrer.

Man stellt allgemein fest, dass Kinder Lehrer mit klaren Regeln mehr schätzen als die “Weicheier”, wie sie sagen. Doch die Eltern, die sich selbst gegenüber ihren Kindern eher als Kumpel denn als Erzieher sehen, tun sich schwer damit und machen Terror. So wird es für Lehrer immer schwieriger, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Sie dürfen von den Schülern nichts fordern, werden dann aber verantwortlich gemacht, wenn die Kinder schlechte Noten schreiben und den Übertritt nicht schaffen.

In manchen Schweizer Kantonen existieren bereits Regelungen, um wiederholte Störenfriede gegen Ende der obligatorischen Schulzeit frühzeitig aus der Schule entlassen zu können. “Es ist naiv zu glauben, dass dies die Eltern zum Erziehen animiert”, meint der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. “Man unterschätzt das Aggressionspotential von Eltern.” Wohin das führen könne, zeigten Beispiele in Amerika. Dort müssen sich Lehrpersonen auf dem Schulweg nicht mehr nur vor gewalttätigen Schülern schützen, sondern auch aufpassen, dass sie nicht von gebüssten Vätern geschlagen werden (Beobachter 16/2002). Neuerdings können sich Lehrer in den USA für den Fall, dass sie durch frustrierte Schüler ermordet werden, versichern lassen, damit wenigstens die Familie abgesichert ist.

Die Folgen einer falsch verstandenen Freiheit

Die Folgen einer falsch verstandenen Freiheit sind Lernverweigerung und Schulversagen. Die Jugendlichen, die Lehren nicht antreten oder abbrechen, junge Männer, welche die Rekrutenschule nicht beenden können, nehmen zu. Später, bei auftauchenden Problemen am Arbeitsplatz oder in der Ehe, schmeisst man alles hin. Die verwöhnungsbedingte Mutlosigkeit vieler junger Menschen ist ein Teufelskreis, aus dem nur schwer auszubrechen ist.

Wie können wir jungen Menschen helfen aus diesem Teufelskreis auszubrechen? Das zeigen wir Ihnen im Teil 3.

Leichte Überarbeitung: Antoinette Lüchinger, Livenet.ch

Datum: 04.06.2003
Autor: Yvonne Schwengeler
Quelle: Ethos

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