Nach Online-Gottesdienst: «Kurz danach fuhr ein Streifenwagen vor…»
Viktor Kostov, wie
wirkt sich die Coronakrise auf die evangelischen Christen in Bulgarien aus –
gibt es Bemühungen seitens der Regierung, die Krise auszunutzen, um restriktive
Tatsachen zu schaffen?
Viktor Kostov: Nach
der bulgarischen Verfassung ist die Religionsfreiheit auch im Ausnahmezustand
ein unwiderrufliches Menschenrecht. Natürlich stellt das Gesetz einige Einschränkungen
auf, dass «die Religionsfreiheit nicht darauf abzielen darf, die öffentliche
Gesundheit zu bedrohen». Diese Bestimmung und die allgemein unklare Rechtslage
im Rahmen des Notstandsrechts schaffen eine Menge Möglichkeiten für die
Regierung unter dem Vorwand, die öffentliche Gesundheit zu schützen.
Ein solcher Fall betraf eine evangelische Gemeinde in Ruse, wo die Polizei einen Gottesdienst abbrach, weil sich jemand darüber beschwert hatte. Auch wenn das neue Notstandsgesetz religiöse Versammlungen nicht verbietet, ebenso wenig wie die Verordnungen des Gesundheitsministers, brach die Polizei den Gottesdienst dennoch ab. Selbst die Tatsache, dass die Teilnehmer weit voneinander entfernt sassen und alle notwendigen Hygienemassnahmen umsetzten, half nicht weiter. Während des Palmsonntags kam es zu einem weiteren Vorfall, bei dem sich eine grosse, hauptsächlich aus Roma bestehende evangelische Kirche unter freiem Himmel auf dem Gelände der Kirche versammelte. Danach wurden 30 der anwesenden Personen von der Polizei vorgeladen und mit einer Geldstrafe belegt, weil sie am Gottesdienst teilgenommen hatten. Sie wurden anhand des Videos identifiziert, das die Kirche online gestellt hatte! Die Staatsanwaltschaft leitete sogar eine Untersuchung gegen die Kirche ein. Dies ist eindeutig eine Belästigung und Verfolgung von Christen ohne triftigen Grund, selbst unter den gegenwärtigen Umständen. Aus dem Video war ersichtlich, dass die Menschen in einem gewissen Abstand voneinander sassen und viele von ihnen Masken trugen. Und trotz allem waren die orthodoxen Kirchen offen.
In Bulgarien drohte vor nicht allzu langer Zeit
eine Verschlechterung der Religionsfreiheit – wie sieht das heute aus?
Im Jahr 2018 versuchten die wichtigsten politischen
Parteien im Parlament, ein Gesetz zu verabschieden, das uns in kommunistische
und noch schlimmere Zeiten zurückgeworfen hätte. Dank unserer Bemühungen und
der Bemühungen eines grossen Teils der evangelischen Gemeinden und Konfessionen
sowie des erheblichen internationalen Aufschreis konnte
die Situation jedoch weitgehend bereinigt werden. Letztendlich wurden bei den
Änderungen des Religionsgesetzes nur sehr wenige der Einschränkungen
zugelassen. Dennoch sind sie nicht unbedeutend: Eine dieser
Einschränkungen sieht vor, dass die Kirchen Ausländer, die ihren Gottesdienst
besuchen, melden müssen, bevor sie daran teilnehmen können. Und die Kirchen
sind verpflichtet, der Regierung ein Verzeichnis der in- und ausländischen
Prediger vorzulegen. Jedes Jahr bis Ende Februar müssen Kirchen und
Denominationen der Regierung über ihre Tagungsorte Bericht erstatten. All dies
sind demütigende und unnötige Belastungen für christliche Gruppen und Kirchen.
Wir halten sie für verfassungswidrig und gegen den Europäischen Konvent. Das Ergebnis dieser «Befolgung» ist, dass die Behörden
nun weitere Forderungen stellt, auch über das bereits einschränkende Gesetz
hinaus. Wenn man nicht für Freiheit und Recht steht, hat die Regierung die
Tendenz, sich das, was Gott gehört, zu eigen zu machen.
Ist dieses «nicht schlimmer werden» eine
zeitliche begrenzte Verbesserung oder wird die Situation ständig besser bleiben?
Einerseits ist der Staat gegenüber den Evangelischen
weniger misstrauisch geworden. Wenn Leiter Hilfe von der Regierung bei
Verfahren brauchen, folgen die Bürokraten den Regeln, versuchen aber auch zu
helfen. Wenn zum Beispiel ein Missionar ein religiöses Visum braucht oder eine
Kirche gegründet wird und die Papiere eingereicht werden müssen. Selbst wenn die Polizei während der aktuellen Krise
zu christlichen Versammlungen kommt, ist sie höflich und respektvoll. Aber das
zerstreut immer noch nicht das ungute Gefühl, dass die Polizei einen
beobachtet. Ich habe gerade mit einem Pastor telefoniert, der seinen Dienst
online übertragen und die Menschen ermutigt hat, keine Angst zu haben und den
Glauben auszuüben – kurz danach fuhr ein Streifenwagen vor… Andererseits ist die Religionsfreiheit kein universeller
Wert geworden. Die Gemeinde sieht nicht unbedingt die Notwendigkeit, gegen
verfassungswidrige Einschränkungen vorzugehen, wenn der Staat nachsichtig genug
handelt. Aber diese Nachsicht kann sich zu jedem Zeitpunkt leicht ändern.
Wie hat sich die Situation für Christen seither
verändert?
Die Kirche im Allgemeinen hat kein Problem damit,
die freiheitsfeindlichen Änderungen im Gesetz zu befolgen. Ich vermute, sie
sehen dies als die geringere Belastung im Gegensatz zum Einreichen von Verfahren,
Beschwerden und Klagen zur Verteidigung ihrer Freiheit. Es scheint, dass nicht registrierte Kirchen
möglicherweise in einer besseren Position sind als die registrierten, da sie
nicht alle diese Vorschriften einhalten müssen. Wenn die Kirche nicht
registriert ist, gibt es gewisse Nachteile, wie zum Beispiel keine
Steuervergünstigungen für Gebäude, Spenden und die Möglichkeit, im Namen der
Gemeinde zu mieten oder zu kaufen. Aber auch solche Gemeinden sind kleine
Gruppen und nicht sehr einflussreich, so dass der Staat nicht daran
interessiert ist, sie zu regulieren.
Wie ist die Haltung der bulgarischen Medien
gegenüber Christen?
Die Medien, vor allem die linken neoliberalen, wenden
sich besonders vehement gegen Christen und die Kirche, die die traditionelle
Familie und das Recht der Eltern verteidigen, die moralische und geistliche
Erziehung ihrer Kinder zu übernehmen. Sie nennen uns und sozial sowie politisch
aktive Christen «rechte Sekten», «religiöse Extremisten» und alle möglichen
anderen unsinnigen Beiworte.
Welchen Einfluss haben evangelische Christen in der
Gesellschaft?
Sie sind immer noch eine kleine Minderheit –
schätzungsweise ein Prozent der sieben Millionen Einwohner sind evangelisch.
Dennoch standen in letzter Zeit bestimmte Evangelikale im Mittelpunkt der
Elternbewegung, die die neuesten fortschrittlichen und linksgerichteten
staatlich geförderten Projekte wie die «Nationale Strategie für das Kind»
ablehnt und dem totalitären Sozialdienstleistungsgesetz vorübergehend Einhalt
geboten hat. Diese Politik und dieses Gesetz offenbaren, wenn
sie sorgfältig analysiert werden, eine finstere, gegen die Familie gerichtete
Denkweise und Ideologie. Wir gehörten zu denen, die aufzeigten, welche rechtlichen
Folgen es hätte, wenn diese Gesetze verabschiedet würden. Viele Eltern bildeten
eine Basisbewegung, die sich gegen die Kontrolle des Staates und der
Sozialdienste über ihre Kinder stellt. Diese Richtlinien zielen
vordergründig darauf ab, Familien zu helfen, aber aufgrund der enormen
Geldmenge und der Macht, die den Sozialdiensten gegeben wird, würden sie in
Wirklichkeit Kinder und Eltern auseinandertreiben. Öffentliche Erziehung und
die Sozialdienste würden dazu benutzt, Kinder zu sexualisieren, Geschlechterverwirrung
von klein auf zu fördern und Kinder einfach in Pflegefamilien mit sehr wenig
richterlicher Aufsicht umzuverteilen. Auch die Orthodoxe Kirche hat sich gegen diese
familienfeindliche Politik reicher NGOs und des Staates zur Wehr gesetzt.
Sind die Menschen in Bulgarien offen für den
christlichen Glauben?
Im Allgemeinen würde ich das nicht sagen. In dieser
Zeit der Krise, in der sich das Leben für viele so dramatisch verändert hat,
sind die Menschen, wie in vielen anderen Ländern, auf der Suche. Wir müssen
diese Gelegenheit nutzen, um die Freiheit der Kirchen zu fördern, sich zu
treffen und das Evangelium der Erlösung zu predigen. Wir müssen den Menschen, die danach suchen, die
Möglichkeit geben, das grundlegendste Menschenrecht auszuüben – das Evangelium
Jesu zu hören und durch Gottes Wort frei zu werden. Ich hoffe sehr, dass dies
für Bulgarien, aber auch für die Schweiz und viele andere Nationen gilt.
Zum Thema:
Schweizerinnen in Bulgarien: «Wo werden bei uns 200 Menschen getauft?»
Alphalive in Bulgarien: «Schwerverbrecher sind nicht wiederzuerkennen»
Der Kurs wird zum Treffen: «Alphalive» gibt es jetzt auch fürs Wohnzimmer
Datum: 29.04.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet