Gemeinsam glauben und bekennen

„Bullinger ist vielleicht aktueller, als uns lieb ist“

Dieses Jahr feiert die reformierte Schweiz den 500. Geburtstag Heinrich Bullingers, des zweiten Reformators in Zürich. Der Mann, der nach Zwingli kam, legte Grundlagen für das Kirchesein, die heute topaktuell sind. Warum, sagt Pfr. Gottfried W. Locher, beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) für Aussenbeziehungen zuständig, im Livenet-Interview.
Kirche ist mehr als Gemeinde am Ort: Heinrich Bullinger verband die Schweizer Reformierten
Wissen, woher wir kommen: Gottfried W. Locher in seinem Büro in Bern
Das Grossmünster in Zürich bei Nacht

Livenet: Der Nachfolger Zwinglis ist ein bedeutender Theologe, den man kaum mehr kennt. Nun wird er aus der staubigen Kammer hervorgeholt. Auch Bundesrat Leuenberger kommt zum Festakt ins Grossmünster. Was aber kann das Jubiläumsjahr der reformierten Kirche bringen? Welche Bedeutung hat Bullinger für heute?

Gottfried W. Locher: Zwei Aspekte sind wichtig, ein kirchenpolitischer und ein theologischer. Zum ersten: Das Jubiläum erinnert uns an unseren eigenen konfessionellen Ursprung. Wir haben in unserer reformierten Tradition eine Geschichte, und es ist gut, die bei der Gestaltung der Kirche heute und morgen mitzubedenken.

Vor uns hat man auch schon Kirche gestaltet. „Ecclesia semper reformanda“ (die Kirche ist ständig zu reformieren) kann darum nicht heissen, dass wir immer alles neu erfinden müssen in der Kirche. Es gibt einen wertvollen Grundstock von Geschaffenem; mit dem sollten wir sorgfältig umgehen. „Reformieren“ nur dort, wo’s nötig ist, sonst drehen wir uns nur noch um uns selber. Die Rückbesinnung auf Bullinger könnte uns auch innere Freiheit schenken für die Zukunft.

Zum theologischen Aspekt: Wenn ich es richtig verstehe, hat Heinrich Bullinger gewissermassen dort weitergedacht, wo Huldrich Zwingli aufhören musste. Nach Zwingli kam ein grosser Theologe, der das begonnene reformatorische Denken in Zürich weitergeführt und international vernetzt hat. Dieser Mann ist Bullinger. Es scheint, dass wir ihn als Theologen heute neu entdecken.

Was die Überlegungen zu Wesen und Gestalt der Kirche betrifft, verstehe ich Bullinger als zürcherisches Gegenüber des Genfers Johannes Calvin. Wir können bei ihm Aussagen über Kirche-Sein, über kirchliche Strukturen und Inhalte finden, die für uns heute relevant sind.

Zürich, Bern, Basel und Genf waren im 16. Jahrhundert weiter voneinander entfernt als heute. Bullinger hat mit seinen theologischen Gedanken und seinem vermittelnden, ausgleichendem Wesen auf den Verbund der Schweizer Reformierten hingearbeitet.
Ja, ich glaube, hier liegt ein Hauptpunkt dessen, was für uns heute wesentlich ist. Bullingers Kirchenbegriff war immer schon ein überregionaler. „Kirche“ verstand er nicht als auf die Kirchgemeinde begrenzt, sondern weiter gefasst, offener, auch geografisch umfassender. Im Blick darauf, wie die Reformierten heute miteinander umgehen, liegt hier Zündstoff: Wie finden wir zueinander, wenn wir an verschiedenen Orten in verschiedenen Kirchen leben und doch eine gemeinsame Tradition, eine gemeinsame Theologie, gemeinsame Werte haben? Wie fördern wir Einheit unter reformierten Kirchen?

Das zweite Helvetische Bekenntnis, weitgehend Bullingers Werk, hat wesentlich zu einem gemeinsamen Profil der reformierten Kirche in der Schweiz und darüber hinaus geführt. Europäisch reformiert sein und so eine Stimme haben im ökumenischen Konzert – Bullinger ist da vielleicht aktueller, als uns lieb ist.

Aus unserem Land kommt ein Bekenntnistext mit internationaler Ausstrahlung, und doch scheint dieser Text in der Schweiz nur noch Wissenschaftler zu bewegen. Wir im Ursprungsland der Reformation kennen das Bekenntnis gar nicht mehr, das die Überzeugungen unserer Väter in Worte fasst.
Dass das Bekenntnis nicht mehr geglaubt wird, dessen bin ich mir nicht sicher. Sicher ist jedenfalls, dass wir es nicht mehr als Identifikationsmerkmal nach innen und aussen präsentieren. Hier liegt die ökumenische Schwierigkeit. Wenn wir nicht mehr mit einem greifbaren Text kommunizieren können, was das Bekenntnis unserer Kirche ist, dann sind Dinge wie Profil und Identität ebenfalls wenig greifbar.

Der Bekenntnistext an sich ist natürlich Makulatur, wenn er nicht tatsächliches Bekenntnis wird, aber das Bekenntnis ohne das synodal beschlossene entsprechende Dokument wird leicht beliebig und manipulierbar. Jeder legt sich dann sein eigenes Credo zurecht, was gemeinsames Kirchesein nicht grad erleichtert.

Aus dem Ausland, auch dem reformierten, kommt uns viel Unverständnis entgegen, wenn wir von Bekenntnisfreiheit sprechen. Oft fragt man, wie Kirche überhaupt bekenntnisfrei sein kann – heisst Kirche denn nicht Bekenntnis? Ich gebe mir jeweils alle Mühe, Bekenntnisfreiheit von Bekenntnislosigkeit abzugrenzen. Aber ich muss Ihnen sagen: Im Endeffekt bleibt ziemlich viel Skepsis beim Vis-à-Vis, in der reformierten Welt und noch viel stärker in der konfessionellen Ökumene.

Die geltende Zürcher Kirchenordnung bestimmt Kirche vom Hören des Wortes Gottes her. Die reformierten Christen weltweit setzen den Akzent stärker aufs gemeinsame Bekennen: Nicht nur zur Predigt gehen, sondern miteinander bekennend antworten. Was bedeutet es für die Lebendigkeit der Kirche, dass wir hier vom Hören statt vom gemeinsamen Bekennen ausgehen?
Ich glaube, wir können mit Fug und Recht sagen: Schweizer Reformierte bekennen ihren Glauben. Aber Bekennen und Bekenntnis ist nicht einfach dasselbe. Im Begriff Bekenntnis steckt ein weites Feld von Vorstellungen, auch von widersprüchlichen. Ein Beispiel: Der Reformierte Weltbund hält diesen Sommer im westafrikanischen Ghana seine Vollversammlung ab. Auf der Traktandenliste steht die Frage nach einem Bekenntnis angesichts der Globalisierung.

Es wird geltend gemacht, dass es ur-reformiert sei, Bekenntnis neu zu fassen, so dass wir in unsere heutige Welt hinein Wesentliches sagen können. Nicht nur die katholische Theologie hat da ein anderes Verständnis von Bekenntnis: Ein Bekenntnistext ist ein geschichtlich geschehenes Ereignis mit einem identitätsstiftenden Text über alle Zeiten und Orte hinweg.

Diese Spannung muss von uns angegangen werden. Unsere Bekenntnisvergessenheit – im Sinn eines schriftlichen Dokuments – ist immer auch Traditionsvergessenheit. Nicht zufällig nehmen wir Reformierten vergleichsweise wenige Rücksichten auf Tradition und betonen eher, dass Kirche sich immer neu in die Zeit hinein passt.

Nicht nur Katholiken und Orthodoxe, sondern auch viele reformatorische Kirchen gehen anders mit der Bekenntnis-Tradition um als wir. Für die Anglikaner beispielsweise sind die altkirchlichen Bekenntnisse zentral. Ereignisse in der Kirchengeschichte, da man sich auf einigende Bekenntnisse verständigt hat, werden von ihnen hoch in Ehren gehalten.

Livenet bringt in den nächsten Wochen eine Serie mit Texten von Heinrich Bullinger.

Datum: 04.06.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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