Milieus im Wandel

«Die Mitte der Gesellschaft zerbricht»

Erreicht die Gute Nachricht von Jesus die Menschen in ihren Lebenswelten? Soziologen schärfen den Blick für die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Milieus, die sich wandeln und aufgliedern. Christen sind gut beraten, die Erkenntnisse ernst zu nehmen.
Krise als Chance zum Zusammenrücken? Carsten Wippermann an der Buchmesse in Frankfurt.

Die Soziologie hat die Bedeutung von Milieus für das Selbstverständnis und Handeln von Menschen bewusst gemacht. In kirchlichen Kreisen hierzulande bekannt ist das Sinus-Modell. Carsten Wippermann, der die Studien leitete, hat es zum Delta-Modell weiterentwickelt und für Deutschland eine erste Untersuchung erstellt.

Ein Hauptergebnis: Die Mitte der Gesellschaft ist vielfältiger geworden. «Von der Mitte zu sprechen, ist nicht mehr angemessen. Die Mitte zerbricht derzeit in mehrere Grundorientierungen, unterschiedliche Lebensauffassungen.»

«Ich bin nichts wert»

Am unteren Rand der deutschen Gesellschaft haben die Menschen laut Wippermann «immer geringere Chancen, aus ihrer Situation herauszukommen und in die untere Mittelschicht aufzusteigen». Da entwickelten sich die Kulturen immer weiter auseinander. Ältere stünden unter dem Eindruck, dass man sie nicht mehr brauche. «Dazu kommen aber jüngere Menschen in der Unterschicht. Und da heisst es nicht: Man braucht mich nicht mehr, sondern: Ich bin nichts wert.»

Mehr Lebenszielgruppen

«Milieus in Bewegung» heisst die neue Studie von Carsten Wippermann. Der Professor für Soziologie an der katholischen Stiftungsfachhochschule München-Benediktbeuern stellte sie im Oktober an der Frankfurter Buchmesse vor.

«Unsere Gesellschaft wird heterogener, sie differenziert sich tatsächlich immer weiter aus.» Gemäss Wippermann bilden sich immer weitere Lebenszielgruppen, Submilieus. Die Hedonisten (Genuss- und Lustorientierte) etwa seien kein homogenes Milieu, sondern es gibt «subkulturelle Hedonisten und Lifestyle-Hedonisten, die ihren Hedonismus tatsächlich an der Mitte der Gesellschaft ausrichten.»

Unterwegs – nach oben oder nach unten

Zum anderen berücksichtigt der Verfasser die Tatsache, dass viele individuelle Leben heute nicht mehr geradlinig verlaufen. «Die Verläufe sind häufig perforiert. Es kommt zu Brüchen, die einen nach unten oder auch nach oben bewegen.» Insofern komme es zu Milieuwanderungen. «Manche werden im Lauf des Lebens tatsächlich ein bisschen gesetzter und konservativer. Aber nicht alle landen dabei im konservativ-traditionellen Milieu. Die Art, konservativ und traditionell zu werden, verändert sich; auch innerhalb eines Milieus gibt es dann konservative Strömungen.»

Kein Plan fürs Leben

Jüngere Deutsche – Schweizer und andere Westeuropäer sieht Wippermann in einer ähnlichen Lage – haben im Unterschied zu ihren Vorfahren keinen umfassenden Lebensplan. «Die Vorstellung, wie ich in 30 oder 40 Jahren leben werde, leben möchte, ist oft gar nicht mehr vorhanden. Die Zukunft ist offen.» Da schlagen Krisen anders aufs Gemüt. «Diese Menschen verlassen sich auf sich selbst und haben eine innere Auffassung: Ich werde es schon irgendwie hinbekommen. All meine Pläne werden sowieso nicht realisiert werden; das Leben verläuft anders.» Materiell und mental gut ausgestattete Personen entwickelten unter diesen Bedingungen ein starkes Selbstbewusstsein; für andere bedeute eine Krise «eine enorme Unsicherheit und Offenheit, wo es schwierig ist, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen».

Lesehilfe für Christen

Carsten Wippermann betont, dass seine Untersuchung (wie auch die früheren Sinus-Studien) keine Ideologie für die Gesellschaft hergibt. Kirchen solle sie als Lesehilfe dienen. Jede Volkskirche stehe vor der Aufgabe, «sich allen Menschen zuzuwenden, sie ernst zu nehmen und für diese Menschen da zu sein. Sie soll nicht nur eine Teilgruppe als ihre Kundschaft bedienen.»

Wandern in Milieus

Laut Wippermann ist das von ihm entwickelte neue Delta-Modell wirklichkeitsnäher als das bekannte Sinus-Milieu-Modell, das bis 2010 verwendet wurde. Delta berücksichtigt ausdrücklich, dass Menschen im Verlauf der Zeit in Milieus wandern und Gegensätzliches verbinden. So habe sich gezeigt, dass ein Teil der so genannten Performer paradoxerweise bürgerlich werde: «Sie wollen immer weiterkommen, verbinden aber diese Flexibilität mit bürgerlichen Werten, bei denen es ums Ankommen geht.»

Ein Wert – viele Verständnisse

Zudem hat der Soziologe herausgearbeitet, dass derselbe Wert in verschiedenen Milieus durchaus unterschiedlich verstanden wird. Leistung etwa heisse für Konservative, Schritt für Schritt, stufenweise, weiter nach oben zu gehen. «Für einen Performer bedeutet Leistung dagegen: Ich muss auf den höchsten Berg. Ich war schon auf den Bergen rundum. Aber ich allein gehe auf den höchsten Berg. Da oben habe ich den Überblick.» Der Postmaterielle finde, dass Leistung nicht von ihm abhange, sondern von der Umwelt. Und bei Etablierten sei Leistung sehr mit männlicher Power verknüpft. «Das zeigt: Selbst bei Menschen in derselben Schicht wird der Begriff sehr unterschiedlich verstanden.»

Zusammenrücken in der Krise?

Laut Wippermann ist offen, ob die Milieus nach langem Ausdifferenzieren und Auseinanderdriften einander wieder ähnlicher werden. «Kann die Krise, die wir im Moment erleben, ein Motor werden für eine gesellschaftliche Annäherung von den Rändern Richtung Mitte? Das fände ich schön und hilfreich, damit unsere Gesellschaft nicht immer mehr in Fragmente zerbricht.»

Buch bestellen:
Carsten Wippermann: Milieus in Bewegung.
Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland

Datum: 21.11.2011
Autor: Peter Schmid

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