Das Überwinden des Denominationalismus
Im Lauf der Kirchengeschichte entstehenden Kongregationen oder Pastorenkirchen. Diese verbanden sich zu sogenannten Denominationen, wörtlich Benennungen, also Gemeindebünde und Verbände, die sich nach einer bestimmten Lehre (die "Täufer" oder "Baptisten"; die Pfingstgemeinden), einer Methode (die Presbyterianer; Methodisten), einer Gründerperson (Luther, Calvin), oder einem Ort (Herrenhuter Brüdergemeinde; Marburger Kreis) benannten, oder eine konfessionellen Aussage (reformiert, katholisch, uniert, orthodox, unabhängig etc.) in ihrem Namen trugen.
Spaltungen der Kirche
Heute gibt es ca. 30.000 Denominationen auf der Welt. Was würde wohl Paulus dazu sagen? Paulus hatte einst von den Korinthern gehört, dass sie sagen: "Ich bin Paulisch, Apollisch, Kephisch oder Christlich?". Übertragen auf unsere heutige Zeit würde das so lauten: "Ich bin reformiert; ich bin Baptist; ich bin katholisch; ich bin Pfingstler; ich bin Methodist". Seine empörte Antwort: "Wie, ist Christus nun zertrennt?" (1. Korinther. 1,12-13). Paulus hat deutliche Worte für die denominationell denkenden Korinther: "Wenn einer sagt ich bin paulisch; der andere aber sagt: ich bin apollisch - seid ihr nicht fleischlich?" (1. Korinther. 3,4). Paulus geht sogar soweit und sagt: dieses Denken in Spaltungen bewirkt, dass Christen auf der Stelle treten und nur Milch trinken und noch keine feste Speise vertragen können, sie sind "junge Kinder in Christus".
Zurück zur Einheit
Dann schreibt er weiter und predigt die Lösung für dieses Dilemma: das Kreuz Christi. Am Kreuz von Christus liegt auch heute noch die wirkliche und einzige Antwort für die Zertrennung des Leibes Christi: Selbstverleugnung, die Kreuzigung des Stolzes, das Aufgeben menschlicher Machtinteressen, und das demütige Einander-Unterordnen.
Soll die Einheit des Leibes Christi wirklich für die nächsten 2000 Jahre Vision, romantische Träumerei oder Floskel einer diplomatischen Kirchenpolitik bleiben, oder leben inzwischen Jünger Jesu auf diesem Planeten, die radikal und konsequent genug sind sich auch heute auf die klaren Standards des Wortes Gottes einzulassen, Jünger, die Gott mehr fürchten als Menschen? Wo ist die Stadt auf dem Globus, die hier den ersten Schritt tut?
Bis heute ist der Sonntagvormittag die peinlichste Zeit des Christentums, die Stunde der Woche, an dem die gesamte Christenheit wie von einem unsichtbaren Wind in die verschiedensten Himmelsrichtungen zerblasen wird, wenn die Christen aus ihren Häusern gehen und oft genug aneinander vorbei in verschiedene Gemeinden, Kirchen und Zentren eilen. Diese Zeit läuft nun ab, denn diese Form des Christentums ehrt weder Gott, noch kann sie die apostolischen Aufgaben, vor denen die Gemeinde steht, ernsthaft angehen.
Schienenwechsel: von 2 & 4 auf 1 & 3
Die biblische Heimat der Gemeinde ist auf zwei Ebenen sichtbar, oder, mit einem anderen Bild gesprochen: Die Christenheit ist wie ein Zug, der auf zwei Schienen fährt: Schiene 1 (das Haus) und Schiene 3 (die Stadt oder Region).
Dort ist christliche Verbindlichkeit wichtig, und das zeigt sich u.a. daran, dass an diesen Orten die Finanzen zusammengelegt werden. Heute finden jedoch die meisten Gemeinden ihre Identität noch auf Schiene 2 (Pastorenkirche) und einer bestimmten Denomination (Schiene 4).
In Beschlag genommen durch die ständig laufenden eigenen Programme und Aktivitäten auf der so genannten "Gemeindeebene" (gemeint ist Schiene 2) und den dazukommenden denominationellen Verpflichtungen sind die meisten Christen in denominationellen Pastorenkirchen wie abgeschottet vom Rest des Leibes Christi einer Region. Sie kommen noch nicht einmal dazu, mit ihren christlichen Nachbarn im selben Wohnquartier Gemeinschaft zu haben, weil die verschiedenen denominationellen Gemeinden, zu denen sie gehören, alle verschiedene Programme haben.
Sie leiden durch die langjährigen Fixierungen auf einen kleinen Teil der grossen Gemeinde Gottes eine sehr drastische Art von Mangelkrankheit, entwickeln ein ungesundes Klan-Denken, ein Art geistlicher Inzucht, und entwickeln ähnlich stolze Gefühle über ihre "besonderen Erkenntnissen" oder Erfahrungen wie die alten Korinther.
Gott ist nun dabei, diesen Zustand zu verändern. Immer mehr Christen - ganz besonders die junge Generation - finden sich mit diesem Zustand einfach nicht länger ab. Sie spüren instinktiv, dass etwas mit dem denominationellen System (2 plus 4) nicht stimmt. Im Zeitalter der Globalisierung schauen sie bewusst über ihren Tellerrand hinaus, suchen die Nähe aller Christen vor Ort, wollen sich lokal, dort wo sie wohnen, engagieren, und warten nur darauf, gemeinsame Celebrations zu feiern.
Zeit für prophetische Fusion
In den kommenden Monaten und Jahren wird eine Zeit der Fusionen von Christen und ganzen Gemeinden kommen, die erkennen dass sie denselben genetischen Code haben. Sie werden lokal und regional die Verantwortung füreinander und miteinander eingehen, weil sie spüren dass ihr Herr das möchte. In vielen Städten und Regionen haben erstaunlich viele Gemeinden weit mehr gemeinsam als was sie scheinbar trennt: sie haben einen gemeinsamen Nenner, ähnliche Vision, ähnliche Werte und einen ähnlichen Herzschlag, weil sie einen gemeinsamen Herrn haben.
Und sie haben auch meistens ein gemeinsames Problem: sie wachsen nicht wirklich oder nur sporadisch, stehen vor verschiedenen Wachstumsbarrieren, die Mitglieder sind durch die Vielzahl der Programme in Beschlag genommen, die Pastoren sind am Rand der Überlastung, die finanziellen Belastungen sind drückend, und fast jeder merkt: irgendetwas fehlt, irgend etwas stimmt nicht.
Kennen Sie das?
Gemeinde X in Y bekommt überraschend in einem faszinierenden Angebot eine grosse Halle mit Z-Sitzplätzen zum Kauf offeriert. Obwohl das Projekt finanziell und auch praktisch zwei oder drei Nummern zu gross ist, kommt es zu einer heftigen Diskussion. Die einen sind überzeugt, dass Gott hier die langersehnte "Ernte- oder Erweckungshalle" für die Gemeinde anbietet, die
anderen winken ab und warnen davor, sich nicht unendlich zu übernehmen. In der darauffolgenden "Prüfungszeit" kommt es zu keinem klaren Ergebnis, der Weg scheint wie versperrt, die Fronten verhärten sich. Der Finanzierungsplan will nicht aufgehen, wertvolle Menschen wenden sich von der Gemeinde deswegen ab, die Gebäudekommission kommt nicht vom Fleck, alles scheint wie gesperrt. Nach etwa 6 Monate langem Unentschiedenheit der Gemeinde kauft ein Geschäftsmann das Gelände oder Gebäude und nutzt es nun für kommerzielle Zwecke.
Aus der Perspektive der Stadtkirche gesehen sieht der Vorgang völlig anders aus. Gott bietet diese Halle eben nicht "Gemeinde X" an, sondern der Stadtkirche, der Kollektivität aller Christen vor Ort. Gott will der Stadtchristenheit einen Ort für ihre Celebrations zur Verfügung stellen.
Doch es ist wie bei einer grossen Familie unter dem Weihnachtsbaum: ein reicher Onkel will der ganzen Familie ein wirklich grosses Geschenk machen, doch ein vorlauter Junge aus der Familie will das Geschenk nur für sich haben. "Es gehört mir, mir allein, denn ich bin der stärkste, beste, bravste", kräht er. "Nein, es gehört der ganzen Familie", sagt der Onkel.
"Nein, es gehört mir", weiss es der vorlaute Bursche besser" aber ich erlaube den anderen, auch manchmal damit zu spielen", fügt er diplomatisch hinzu. Was wird ein weiser Onkel tun? Er wird sein Geschenk traurig wieder mit nach Hause nehmen oder es einem Kind auf der Strasse schenken.
Die "2-Prozent-Architektur"
Ich beobachte, wie Gott in einer Reihe von Regionen und Städten der Christenheit ein Gebäude anbietet, damit sie in einer modernen Form der "Säulenhalle Salomos" auf Stadtebene zusammenkommt. Ich gehe davon aus, dass die entstehenden Stadtkirchen etwa 10% der Wohnbevölkerung ihrer Region in den nächsten Jahren anziehen werden. Bei einem bis zu 5-fachen Mehrfachnutzen würde ein solches Zentrum also ca. 2 Prozent der Wohnbevölkerung einer Region oder Stadt Platz bieten müssen.
Durch Sterben zum Leben
Wenn die Gruppe von Gemeinden einer Region oder Stadt, die reif genug sind über alle kleinen oder kleinlichen Unterschiede hinwegzusteigen und sich in die Arme zu fallen, miteinander verschmelzen und in etwas Neues hineinsterben, könnte dies der prophetische Anfang einer völlig neuen Epoche der Kirchengeschichte werden. Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, so bringt es viel Frucht. Genau diese Dynamik gilt nicht nur für uns alleine, sondern für die Christenheit als Ganzes. Wie könnte das praktisch geschehen?
- Die Gemeinden verschmelzen zu einer Bewegung mit geographischer, nicht denominationeller Identität: der City Church.
- Die Christen treffen sich zu einer regelmäßigen City-Celebration
- Der 5fältige Dienst (Epheser. 4,11) bildet sich als regionaler Pool und Stützstruktur
- Es entstehen "Hauskirchen" in den Wohnquartieren, Schulen, Szenen, Büros...
Einige Vorteile dieser Entwicklung
- Ein Meilenstein in Richtung Einheit der Christenheit wird erreicht
- Entlastung der Pastoren und Vollzeitler: Jeder arbeitet weniger, aber zusammen erreichen wir mehr
- Auslastung des gottgegebenen Gabenpotentials: jeder kann ab sofort innerhalb der engeren Dienstberufung (etwa Epheser. 4,11) arbeiten, und muss weniger "Mädchen für alles" sein
- Gemeinsam überspringt man kollektive Wachstumsbarrieren (80er/200er Grenze)
- Neues Kapitel der lokalen Kirchengeschichte bricht an und bekommt möglicherweise prophetischen Modellcharakter
- Durch erhöhte Transparenz und "visibility" bekommt die bislang in kleine Fraktionen zerspaltene Christenheit eine deutlichere und unüberhörbarere Stimme für die Stadt
- Entlastung der Mitarbeiter vom "Durchziehen" von Programmen um der Programme willen
- Bessere Qualität etwa der Kinderarbeit oder der biblischen Lehre durch Pooling von Ressourcen auf Stadtebene
- Bei weitem grösserer evangelistischer und permanenter Sogcharakter
- Gemeinsames Nutzen (und genossenschaftliches Finanzieren) von Räumlichkeiten auf Stadtebene
- Ressourceneinsparung (fünf mittelgrosse Hallen, Gemeindehäuser oder Säle kosten mehr als eine wirklich grosse Halle)
- Öffentliche Imagekorrektur: ein Ausdruck der gelebten Versöhnung der Christen entsteht
- Kürzere Wege: regionale Vollzeitler könnten ein gemeinsames Büro mit Poolcharakter öffnen
- Jüngerschaft, Multiplikation und Integration von Neubekehrten könnte auf der Basis der Hauskirchen in den Quartieren und Dörfern stattfinden
- Das sonntägliche Aneinandervorbei-Reisen von Predigttouristen wird reduziert, spart Kosten, Zeit und Peinlichkeiten
- Wirksamere Gemeindezucht: schwarze Schafe können auf regionaler Ebene wirkungsvoller diszipliniert werden, anstatt einfach anderswo unterzutauchen
- Der hohe Prozentsatz der derzeit gemeindelosen Christen findet eine Möglichkeit zum Andocken
- Die jeweiligen Stärken der Gemeinden und Werke könnten in ein gemeinsames Ganzes einfliessen und dadurch Synergieeffekte freisetzen, etwa durch permanente gemeinsame Ausbildung, Evangelisation, Gebet, Public Relations etc.
- Die denominatonellen Glaswände würden fallen, die das wirkliche gegenseitige Befruchten und Miteinander-Arbeiten bislang eher verhindert haben
- Die junge Generation von Christen bekäme eine adäquate Plattform: sie ist mehrheitlich nicht ernsthaft an Denominationen interessiert, sondern an echten kleinen Gruppen und grossen regionalen Gottesdienstfesten
- Der leidige Terminkonflikt der Vollzeitler durch ständiges Leben in der eigenen kleinen Programmwelt würde drastisch verringert
- Eine postmoderne Struktur der versöhnten Verschiedenheit ist stärker öffentlichkeits- und -zukunftsfähig und das Christentum nähme eine zeitgemässe Form an.
Praktische Schritte
Da dies eigentlich Sache der Regionen und Städte ist, in denen dieser Prozess nun anläuft, möchte ich mich bewusst darauf beschränken, nur einige der wesentlichen Voraussetzungen zu einem solchen Schritt zu nennen:
- Die Christenheit einer Region ist bereit, sich und diesen Vorschlag im Gebet und mit der Bibel in der Hand zu prüfen.
- Diejenigen Gemeinden, Werke und Personen, die dieser Vision und den darin ausgesprochenen Werten zustimmen können und die einen gemeinsamen Herzschlag teilen, beginnen sorgsam den Prozess der Fusion. Diejenigen Gemeinden (Werke, Personen), die weiter alleine ihren eingeschlagenen Weg gehen möchten, können dies ohne Gesichtsverlust tun. (Ich gehe davon aus, dass sich zwischen einem und zwei Dritteln aller Christen einer Region für diesen Weg entschliessen werden)
- Christliche Leiter sind bereit, um der Förderung des Ganzen willen das Eigene in Demut zurückzustellen oder in eine grössere Perspektive einzubringen
- "Ordnet euch einander unter": Das Ende des Ein-Mann-Prinzips bedingt ein Zurücktreten von "Nummer 1"-Personen (Seniorpastoren, uneingeschränkten Direktoren von Werken etc.) zu "Nummer 2"-Personen. "Nummer Eins" ist dann nur noch Jesus Christus. Aus einem Untereinander-Arbeiten wird ein Miteinander-Arbeiten, nicht in hierarchischen Pyramiden, sondern in einem Zueinander von Gaben und Berufungen
- Man findet und einigt sich auf ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, etwa der Lausanner Erklärung, dem Glaubensbekenntnis der evangelischen Allianz etc.
- Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, nicht dem Aufbau der "eigenen" Gemeinde oder des eigenen Werkes oder Dienstes
- "Suchet der Stadt Bestes" wird wichtiger als "ein jeder sah auf seinen Weg"
- Es entsteht ein Arbeitsteam von Vollzeitlern der Region, die nach Funktion, nicht Status zusammengesetzt ist .
Autor: Wolfgang Simson
Datum: 14.11.2003
Quelle: DAWN europan network