Pfarrerin Judith Trüssel

«Auf der Gasse finde ich Antworten, wie Gott ist»

Judith Trüssel
Wie geht man das an, wenn ein Dienst auf der Gasse angeboten werden soll? Die Strassenpfarrerin liess sich von den Lebensgeschichten der Bewohner berühren und konnte Hilfe anbieten. Besonders mit Frauen entwickelte sich ein neuer Diakoniezweig.

Die 51-jährige Mutter zweier Kinder betreut nebst ihrer speziellen Pfarraufgabe (70 Prozent) schwerstbeeinträchtigte Personen. Der neue 30-prozentige Arbeitsbereich der EMK (Methodisten) hat besonders bei Frauen Anklang gefunden und schenkt nicht selten einen Neuanfang mit hoffnungsvoller Perspektive.

Livenet war mit der Strassenpfarrerin Judith Trüssel im Gespräch.

Wie entstand der heutige Dienst?
Judith Trüssel:
Mein Wunsch, die Liebe von Gott neu zu erfahren und sie auch Menschen ausserhalb unserer Kirchgemeinschaft nahe zu bringen, wuchs und wurde immer stärker. Dieser Wunsch trieb mich förmlich auf die Strasse. Ich wollte begegnen und zuhören und einfach da sein. Aber wie kann ich glaubhaft da sein, um zu lieben? Ich musste praktische Wege finden, um den Bedürfnissen von den Menschen draussen, Armen, Kranken und anderen Menschen – auch Menschen am Rande der Gesellschaft zu begegnen. Und mit Gottes Hilfe fand ich solche Wege. Daraus entstand unter anderem die Frauengruppe «Onderwäx». Es ist wunderbar, wie die Gruppe sich entwickelt hat – neue Freundschaften sind entstanden, Misstrauen gegenüber Gott und der Kirche ist geschrumpft oder sogar ganz verschwunden. «Die Gemeinschaft tut uns gut und eröffnet uns neue Wege und neue Möglichkeiten», so in etwa die Rückmeldungen der Frauen.

Und wo sind Berührungspunkte mit Ihrer Kirche?
Ich bin dankbar, dass meine Arbeit von der Gemeinde getragen und im Gebet begleitet wird. Die eine oder andere Begegnung zwischen der Gruppe und der Gemeinde hat es bereits gegeben. Als Menschen haben wir das Vorrecht und die Pflicht, Gott in der Welt zu repräsentieren. Unser Wesen, unser Lebensstil und unsere Taten sollen ein Bild dafür sein, wer Gott ist und was Gott auch in der heutigen Welt tut. Für mich geht es immer erstmal darum, wieder neu herauszufinden, wer Gott ist und wie Gott ist. Antworten finde ich auch in den vielen Begegnungen mit meinen Mitmenschen in den Gassen des Städtchens.

Erzählen Sie uns gerne ein paar Geschichten, wo Sie positive Entwicklungen miterleben durften.
Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die viele Jahre obdachlos war. Aufmerksam auf sie wurde ich, weil sie kurz vor Weihnachten, als es eiskalt war, auf einer Bank im Ort übernachtete. Ich sah sie früh am Morgen dort am Boden liegen. Nach dem ersten Schreck stellte ich fest, dass sie schlief. Als ich sie am gleichen Tag nach der Arbeit wieder traf, nahm ich Kontakt mit ihr auf und organisierte ein Bett für sie in unserer Kirche. So begann eine Geschichte, die mich immer noch sehr berührt. Ich begleite und besuche sie oft. Sie ist jetzt nicht mehr obdachlos und wird mit ihren Problemen gut betreut. Wir sind beide Beschenkte, haben wir festgestellt. Die Geschichte, die wir zusammen erleben, verändert uns beide und lässt uns Gott auf wunderbare neue Weise kennenlernen.

Ein anderes Mal traf ich mitten unter vielen Menschen eine Frau, die sehr verzweifelt war und still vor sich hin weinte. Ich kannte sie vorher nur flüchtig. Ich spürte, dass mir Gott hier eine neue Aufgabe zuspielte und nahm Kontakt mit ihr auf. Sie litt unter häuslicher Gewalt und wusste sich nicht zu helfen. Wir fanden Dank Gottes Hilfe Lösungen und heute lebt diese Frau mit ihrem Kind wieder sehr zufrieden in ihrer eigenen Wohnung. Sie begleitet mich oft in die Kirche und ist zu einem wichtigen Mitglied unserer Frauengruppe geworden, die nach und nach entstanden ist. Als Frauen sind wir zusammen unterwegs und wollen Leben teilen, über Gott und das Leben nachdenken und einfach Spass haben. Wir suchen und finden neue Wege. Es hat sich eine ganz eigene Form der Spiritualität zwischen uns entwickelt, die wir schätzen und die uns guttut.

Welche Angebote für Frauen haben eine grosse Nachfrage und weshalb?
Es ist eigentlich immer das gleiche Angebot, das ich oder wir machen können. Wir sind da, um zu lieben. Um zuzuhören und einfach da zu sein. Das genügt. Ich kann an meinem Ort zum Beispiel zusätzlich mit einer guten Vernetzung dienen, das hilft. Mein Angebot greift oft da, wo die öffentlichen Angebote an ihre Grenzen kommen. Dies hat auch mein Wohnort entdeckt und so werde ich neu manchmal auch von der Stadt eingesetzt für kleinere Hilfeleistungen. Ich arbeite immer stärker mit der Polizei, dem Sozialamt, der Suchtberatung und anderen Stellen zusammen.

Und was macht diese Gruppe aus?
Die Frage ist vielleicht, was insbesondere unsere Frauengruppe von anderen unterscheidet und zu einer neuen Form von Kirche macht. Im Grunde ist es nichts anderes als radikal gelebte Gastfreundschaft im Alltag und auf der Strasse. Ursprünglich bedeutet dieses Wort, explizit dem Fremden – also im Grunde einfach allen Menschen – offen und freundlich zu begegnen. Spannend finde ich, dass wir in der Gruppe einen Weg gefunden haben, ohne Termindruck und Organisationsstress zu funktionieren. Nach Aussagen der Frauen schätzen das alle sehr. Begegnungen finden wirklich statt, weil es ein Bedürfnis für uns ist, und nicht, weil Sonntag ist oder so. Ich interessiere mich brennend für Lebensgeschichten, egal was für welche. Das hilft sicherlich, auf meine Mitmenschen offen und mit einer guten Portion Neugier zuzugehen.

Dann haben Sie bestimmt weitere ermutigende Beispiele von Frauen auf Lager?
Ich begleitete eine Frau, die ich im Spital kennengelernt hatte. Sie war gleich alt wie ich und hatte Krebs. Sie suchte Antworten auf ihre Lebensfragen. Sie war enttäuscht von der Kirche und zweifelte daran, dass es einen Gott wirklich gibt. Ich erzählte ihr von meinen Erlebnissen mit Gott. Aus unseren Gesprächen wurde ein Weg, auf dem neuer Glaube wachsen durfte und wir viele Antworten fanden, die halfen. Am Schluss durfte sie friedlich sterben – es war für sie ein «nach Hause gehen» geworden, hat sie gesagt.

Eine andere Frau befand sich mitten in ihrer Scheidung. Alles, woran sie vorher geglaubt hatte, fiel in sich zusammen. Sie musste neue Wege finden, um weiterzuleben. Als sie unsere Frauengruppe kennenlernen durfte, fühlte sie sich nicht länger alleine mit ihren Problemen. Viele Ermutigungen halfen ihr, diese schwere Zeit zu überstehen und neu aufzublühen.

Was wünschen Sie sich für die aktuelle und zukünftige Kirche?
Wir brauchen ein «Mutterschiff», denke ich. Das eine ist, neue Wege zu finden. Das andere, liebgewonnene Traditionen zu bewahren. Ich hoffe und bete, dass wir auch als Kirche weiterhin bestehen können und diesen Aufgaben gerecht werden. Menschen, die enttäuscht sind von der Kirche, kommen nicht einfach zurück ins Alte. Sie müssen auf ihren individuellen Wegen neue Erlebnisse machen, die ihnen einen liebenden Gott näherbringen. Somit braucht es viele Menschen, die sich neu bewusst werden, wie wichtig es ist, Gott auch im Alltag nachzufolgen, ihn gerade da in allem Tun zu bezeugen und von ihm zu erzählen. Aber nicht aufdringlich oder aufgesetzt, sondern mit den eigenen, von Gott geschenkten Gaben, die alle Menschen bekommen haben.

Nur eine authentische Beziehung und Freude an Gott wirkt ansteckend. Da geht es dann nicht darum, kirchenkonforme Merkmale herauszuheben oder einzuhalten, sondern es geht darum, seinen Ort, wo man Kraft schöpfen kann, zu bezeugen, wenn danach gefragt wird; und sonst ganz einfach sich aus dieser Kraft heraus dem Nächsten zuwenden und Gott in ihm neu entdecken und erleben.

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Datum: 17.03.2023
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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