Kirchenjournalist stösst sich am "verfügbaren Gott" der Evangelikalen

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Die Evangelikalen leben vor, dass eine Kirche heute kaum wegen ihrer Theologie, sondern wegen der zeitgemässen Verpackung Anklang findet. Dies schrieb der Journalist für Kirche und Religion beim Zürcher "Tages-Anzeiger", Michael Meier.

Die Aussage ist programmatisch dafür, wie Gemeinden und christliche Einrichtungen im Raum der Evangelischen Allianz und der Freikirchen in der zweitgrössten Tageszeitung der Schweiz dargestellt werden. Fritz Herrli fragte bei Michael Meier nach, wie er seinen Satz meint und warum er diese Sicht vertritt.

Fritz Herrli: Herr Meier, unter "Evangelikale" verstehen Sie offenbar Gruppierungen, die viel Wert auf die Verpackung legen, von Theologie aber im Grunde wenig verstehen. Wo gehen die sogenannten "Evangelikalen" am Wesentlichen der Glaubenslehre vorbei?
Michael Meier:
Die Leiter so mancher evangelikaler Gemeinde – von Leo Bigger über Martin Bühlmann bis zu Hanspeter Nüesch – sind keine Theologen, sondern Quereinsteiger, die allenfalls eine private Bibelschule besucht haben. Wohl auch darum stehen in evangelikalen Gemeinden Themen im Vordergrund, die in den Landeskirchen kaum eine Rolle spielen: etwa das Gebet für die Obrigkeit, Kampf gegen Pornografie und Drogensucht, Heilungen, Befreiungsdienst von Dämonen und der ganze apokalyptische Endzeitglaube mitsamt der Judenmission: Das alles ist an den staatlichen theologischen Fakultäten überhaupt kein Thema. Die nähern sich den Glaubensinhalten historisch-kritisch und intellektuell redlich an.

Was genau stört Sie an der "zeitgemässen Verpackung" der "Evangelikalen"?
Mich stört, wenn die Verpackung dominiert, wenn sie auf Kosten des theologischen Gehalts geht. Lobpreis in Ehren, theologische Reflexion gehört aber unbedingt mit dazu. Auch mag ich in theologischen Belangen nicht von Jeanette Meier oder Claudio Minder aufgeklärt werden. Warum sollen mir ausgerechnet die Schönen und Erfolgreichen das Evangelium nahe bringen? Beim Stichwort Evangelikale fallen mir statt Namen bedeutender Theologen jene von Cervelat-Promis ein, die ich aus den Boulevard- und Lifestyle-Medien kenne: von Nella Martinetti bis Jacqueline Schneider. Mit meinem Glauben kann ich diese trendy Leute wirklich nicht in Verbindung bringen.

Wie müsste Ihrer Meinung nach eine für die heutige Zeit angemessene Verpackung für die frohe Botschaft aussehen? Wie sieht der Auftritt Ihrer Traumgemeinde aus?
Die Traumgemeinde gibt es wohl nicht. Und was die Verpackung anbelangt, schätze ich neben Traditionellem bisweilen auch Einlagen mit moderner Musik, mit Gospel oder schwarzem Soul, ja durchaus auch gewisse Lobpreis-Gruppen wie etwa "delirious". Gut gefallen haben mir die Gottesdienste am ökumenischen Kirchentag in Berlin. Auch der neue Trend der Thomas-Messen in den Landeskirchen, also die Gottesdienste für Zweifler, sprechen mich an. Überhaupt alles Niederschwellige finde ich inspirierend. Die katholische Gemeinschaft San Egidio bietet in der römischen Kirche Santa Maria in Trastevere abends einen Gottesdienst für urbane Menschen an: Schlichtes Gebet. Psalmenlesung und zurückhaltende geistliche Musik. Für einmal also kein Orgel-Brausen und kein Halleluja-Pathos, sondern leise und fragende Töne. Da fühle ich mich sehr wohl.

Ich behaupte, erfolgreiche "evangelikale" Gemeinden wachsen auf lange Sicht nicht wegen der Verpackung (Musik, Show, Theater), sondern weil sie zentrale Inhalte des Evangeliums konkret und verständlich verkündigen, sodass die Leute sie persönlich erfahren und im Alltag umsetzen können. Wie halten Sie dem entgegen?
Ich bezweifle eben, ob die oben genannten Themen wie Kampf der Pornografie, Endzeit oder Heilungen die zentralen Inhalte des Glaubens sind. Mir scheint, es geht da letztlich um einen verfügbaren und berechenbaren Gott, den man weniger im Wort als in der Musik und in "Heilungen" unmittelbar erleben will.

Zweifeln Sie denn daran, dass diese Menschen Gott wirklich real erleben?
Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich Gott erleben oder einfach eine ekstatische Gefühlsintensität, wie man sie auch an einem Popkonzert haben kann. Grundsätzlich glaube ich sehr wohl, dass man Gott als Liebe erfahren kann, nicht aber auf Abruf, sondern aus Gnade. Und Gnade ist etwas Unvorhergesehenes, Überraschendes.

Warum schreibt der "Tages-Anzeiger” überhaupt so gern von "Evangelikalen und Fundamentalisten"? Sind das einfach die "Ewig-gestrigen" oder denken Sie beim Schreiben des Wortes auch an eine Qualität dieser Gruppierungen?
Ich behaupte, der "Tages-Anzeiger" ist die einzige Zeitung in der Schweiz, die das evangelikale Geschehen kontinuierlich verfolgt. Wann berichtet die NZZ schon über ein evangelikales Event? Was uns interessiert und irritiert, ist die fundamentalistische Versuchung mit ihren einfachen Antworten und dem Zeitgeist angepassten Events. Kommt dazu, dass eine Gebetsnacht auf den Rütli oder eine Explo ähnlich medienwirksam ist wie eine päpstliche Messe im Petersdom oder ein Friedensgebet in Assisi. Und es gibt in der evangelikalen Szene halt markige Gestalten, etwa Halleluja-Jo. Seinen Lebensweg vom Zuhälter zum Pastor finde auch ich eindrücklich. Umgekehrt halte ich die Heilungsversprechen des Evangelisten und Heilers Erich Reber in Thun für vermessen und gefährlich. Da muss eine Zeitung eben aufklären.

Machen Sie unter den "Evangelikalen" Unterschiede?
Sicher. Die Evangelikalen sind ja eine sehr heterogene "Glaubensgemeinschaft". Gemeinhin werden zu ihnen auch die Charismatiker und Pfingstler gezählt, die doch ungleich schwämerischer sind als die bibeltreuen Evangelikalen. Mir gefallen gewisse pietistische Kreise wegen ihres sehr glaubwürdigen sozialen Engagements oder auch die Mennoniten auf dem Bienenberg mit ihren deutlichen politischen Stellungnahmen für Flüchtlinge und gegen den Krieg. Auch bei den Methodisten gibt es, trotz ihrer stark erwecklichen Tradition, spannende theologische Denker. Besonders hat mich gefreut, dass sich die Methodisten in Sachen Irak-Krieg so deutlich gegen ihren Glaubensbruder Georg W. Bush stellten.

Haben sich die der Evangelischen Allianz nahestehenden Christen und ihre Kirchen in den letzten zehn, zwanzig Jahren verändert? Wohin läuft Ihrer Meinung nach die künftige Entwicklung?
Das kann ich schlecht beurteilen. Mir fällt auf, dass sich die ganze Szene zunehmend von den Amis beeinflussen lässt. Vom Power Healing über das Prayer-Breakfast bis zur Pro-Life-Thematik: Alles wird von den USA importiert. Ebenso eine gewisse Personalisierung: Es sind einzelne charismatische Leader und Gurus, die eine Gemeinde attraktiv machen.Wenn die nicht rechtzeitig für einen Nachfolger sorgen, wer weiss, ob dann die Gemeinde überlebt.

Man hat beim Lesen Ihrer Beiträge oft das Gefühl, dass Sie der Auftritt der "Evangelikalen" auch persönlich ärgert. Stimmt dieser Eindruck? Wenn ja, warum ist dies so? Wie würden Sie Ihre persönliche Glaubensauffassung beschreiben?
Ihr Eindruck stimmt schon. Was mich stört, ist diese Unmittelbarkeit und Verfügbarkeit Gottes. Die Evangelikalen wissen ganz genau, wer Gott ist und was er will, und dass er "jetzt" unter uns weilen muss. Sie haben gewissermassen eine mechanistische, fast magische Gottesbeziehung. Letztlich läuft das auf eine mittelalterliche Theologie der Herrlichkeit hinaus.

Luther hatte demgegenüber die Freiheit Gottes betont und damit auch die Kreuzestheologie. Seit Anbruch der Moderne müssten die Abwesenheit Gottes und die Säkularisierung unbedingt in jeder Theologie ein Thema sein. Für mich ist das sehr wichtig, ebenso Karl Barths Lehre vom ganz anderen Gott, von Gott, der in seinem göttlichen Inkognito schlicht nicht fassbar ist. Auch bei den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer bis Dorothee Sölle fühle ich mich als gläubiger Skeptiker ernst genommen. Seit meinem katholischen Theologiestudium sind mir auch die Mystiker sehr lieb, die bei aller Gottsuche und erfahrenen Liebe dennoch nie dieses Gottes habhaft wurden.

Datum: 28.01.2004
Autor: Fritz Herrli
Quelle: idea Schweiz

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