Von Lula enttäuscht: Die Landlosen in Brasilien kämpfen weiter

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Der 19-jährige Oziel Pereira muss sich vor den mit Maschinengewehren bewaffneten Militärpolizisten hinknien. Laut muss er ausufen: "Es lebe die Landlosenbewegung MST!" Dann liquidieren die Soldaten den jungen Mann mit einem Genickschuss. Andere Companheiros werden erschlagen oder niedergestochen. Die meisten Opfer aber werden mit Gewehrsalven niedergemäht.

Bei Eldorado de Carajas im brasilianischen Amazonas-Teilstaat Para haben 1996 mehr als 1’000 protestierende Landlose eine Strasse blockiert. Dafür will ihnen die Gutsbesitzer-Elite einen "Denkzettel" verpassen. 67 Landlose, darunter Frauen und Kinder, überleben das Blutbad teils schwer verletzt.

Die Toten – nach offizieller Darstellung nur 19 – werden rasch abtransportiert. Nach Angaben kirchlicher Stellen liegt die Zahl der Todesopfer sehr viel höher. Oberst Mario Pantoja schärft den 145 Offizieren und Soldaten seines Militärpolizei-Spezialkommandos ein: "Niemand hat etwas gesehen!"

Massaker acht Jahre später unvergessen

Im Jahr 2004, acht Jahre später, sind alle beteiligten Militärs weiter auf freiem Fuss. Zwischenzeitliche Gerichtsprozesse verkamen zur Farce. Doch die Welt hat die Bluttat nicht vergessen. Mehr als 5’000 Menschen gedachten am Wochenende am damaligen Tatort der Ermordeten und forderten die Bestrafung der Schuldigen.

Auch in der deutschen Hauptstadt Berlin erinnerten Menschenrechtler mit einer Kundgebung an das Massaker. Wie Zehntausende in den brasilianischen Metropolen Rio de Janeiro, Sao Paulo oder Brasilia forderten sie von Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva, dass der Staat endlich, wie versprochen, brach liegenden Boden aus Grossgrundbesitz an Millionen von Landlosenfamilien verteilt.

Wer Macht hat, geniesst Straffreiheit

Lulas sozialdemokratischer Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso ist Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Letztes Jahr hat ein Internationales Tribunal ihn, seinen Parteifreund Almir Gabriel, Gouverneur des Teilstaates Para, sowie die dortigen Grossgrundbesitzer zu den Hauptschuldigen des Massakers erklärt.

"Ein wahrer Skandal, dass jene mit politischer oder ökonomischer Macht weiter Straffreiheit geniessen", betonte der ehemalige Bischof Tomas Balduino von Goias, heute Präsident der katholischen Landpastoralkommission (CPT). "Leider hat das Tradition in Brasilien, dass grosse Figuren immer ungeschoren davonkommen. Deshalb existiert auch die Sklavenarbeit weiter - bei so geringen Geldstrafen für die Grossgrundbesitzer ein gutes Geschäft", so der Bischof. Auf derselben Grossfarm seien neun Mal hintereinander Sklaven entdeckt worden.

Balduino: "Unter Lula mehr Landkonflikte

Auch die CTP beteiligt sich aktiv am "Abril Vermelho" - am "roten April" - der sozialen Bewegungen. "Alle sind über die Lula-Regierung enttäuscht, unzufrieden mit der Agrarreform, sie demonstrieren jetzt für den Schutz der Menschenrechte, die Demokratisierung des Bodens", erklärt Baldunino. "Wir Christen wissen, dass es dabei – in neuen Dimensionen – um viel mehr geht: um eine neue Gesellschaft, um einen neuen Menschen, gemäss christlichen Idealen."

Grossgrundbesitzer diktieren die Regeln

Die Beteiligung der CPT belegt zum einen, dass die Kirche in dieser Frage auf der Seite der Landlosen steht, sie bezeugt zum anderen aber auch, wie religiös die Bewegung der Campesinos geprägt ist. "Das Massaker war kein isolierter Fall", erklärt CTP-Anwalt José Batista Afonso in der Stadt Maraba, unweit des Verbrechensortes.

"Mit Billigung der Autoritäten hat es hier seit 1982 eine ganze Serie von Blutbädern gegeben. Bis heute wurde niemand verurteilt. Täter und Hintermänner sind auf freiem Fuss und verüben weitere Verbrechen." Durch Pistoleiros einen Landarbeiter umbringen zu lassen, "ist hier praktisch kein Delikt", so der Jurist. "Grossgrundbesitzer diktieren Polizei und Justiz die Regeln."

Stockende Agrarreform

In keinem anderen Land der Welt werden jährlich so viele Menschen umgebracht wie in Brasilien. Im vergangenen Jahr waren es rund 50’000 Menschen, darunter mehr als 50 Landlosenführer. Nur eine tief greifende Agrarreform, ist sich Alfonso sicher, könnte die Wurzeln der Gewalt beseitigen, Arbeit für Millionen von Verelendeten schaffen und den Hunger wirksam bekämpfen. Doch die Reform komme nicht voran, weil die Lula-Regierung immer wieder den Grossgrundbesitzern in der eigenen politischen Basis Zugeständnisse mache und auf strukturelle Änderungen im Staat verzichte.

"Wir sind hier richtig verzweifelt", betont der CTP-Anwalt. "Wir hatten bei Lulas Amtsantritt grosse Hoffnungen, doch die Lage wird immer komplizierter. Wenn wir unter dieser Regierung nicht vorankommen – die nächste wird noch konservativer, noch unnachgiebiger sein. Deshalb organisieren die sozialen Bewegungen jetzt öffentlichen Druck, um vielleicht doch noch etwas zu erreichen."

Autor: Klaus Hart


Datum: 20.04.2004
Quelle: Kipa

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