Differenzierteren Umgang mit Sprachbegriffen

Besser ein Christ als ein Fundamentalist

Bibeltreue Christen werden heute als Fundamentalisten verunglimpft. Was steckt eigentlich hinter diesem Begriff? Warum ist er so negativ besetzt? Wie sollte man darauf reagieren, wenn man als Fundamentalisten beschimpft wird?
Merve
Islam

Als der Begriff "Fundamentalist" zu Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals auftauchte, war er keineswegs ein Schimpfwort, sondern eine stolze Selbstbezeichnung amerikanischer Christen, die damit im Kampf mit modernistischer Auflösung des christlichen Glaubens diese Parole ausgaben: Zurück zu den "Fundamenten", den unverfälschten Grundlagen wahrhaft christlichen Glaubens, zum Bekenntnis zu Jesus Christus als wahrem Sohn Gottes (nicht nur einem vorbildlichen Menschen), geboren von der Jungfrau Maria, gestorben und wirklich auferstanden vom Tod (nicht nur geistig im Glauben der Jünger) - so wie die Schrift es bezeugt. Überhaupt, zurück zu den Grundlagen, das hiess: zurück zur ganzen Heiligen Schrift als unüberholbar gültiges Wort Gottes, zu einer Haltung also, die man heute "bibeltreu" nennt.

Das menschliche leugnen?

Zugleich aber kam es zu einer gewissen Überreaktion. Man meinte, die Autorität der Bibel sei nur so festzuhalten, dass man alles Menschliche in ihrer Entstehung leugnete, weil sie nur so reines Gotteswort sein könne, den biblischen Autoren (die eigentlich nur Schreibwerkzeuge sind) unter Ausschaltung aller persönlichen Voraussetzungen eingegeben. Dahinter steht aber ein mehr rationalistisches als biblisches Verständnis von Wahrheit. Man sieht nicht mehr, dass Gott sich in seiner Barmherzigkeit zu uns Menschen herabneigt und in geschichtlichen Ereignissen und durch menschliche Zeugen sich offenbart. Innerhalb der grossen, bibeltreuen Bewegung der so genannten Evangelikalen bildete sich die engere Gruppe der Fundamentalisten. Für sie ist die Bibel ohne alle geschichtliche Vermittlung das absolut fehlerfreie Gotteswort (konsequenterweise, müsste man annehmen, bis in die Grammatik hinein).

Notfalls mit Gewalt

Aus dieser Richtung des Denkens hinaus neigte man dann teilweise auch zu dem Versuch, die eigene Auffassung auf dem Rechtsweg und mit politischem Druck allgemein verbindlich zu machen. So geschah es zum Beispiel 1925 in dem berühmten "Affen-Prozess" in den USA, in dem das Verbot durchgesetzt werden sollte, in Schulen über die Evolutionslehre zu informieren - obgleich selbst unter den Begründern des "Fundamentalismus" die pauschale Ablehnung der Entwicklungslehre damals keineswegs unumstritten war. Seitdem haftete dem Fundamentalismus in der Öffentlichkeit das Image an, borniert und unwahrhaftig zu sein, und dort, wo Argumente nicht mehr helfen, Machtmittel zur Durchsetzung seiner Ziele einzusetzen.

In den letzten Jahrzehnten kam es vor allem im Islam zu vergleichbaren Tendenzen: Rückbesinnung auf die ursprünglichen Dokumente des Glaubens und Durchsetzung seiner Ziele ohne Rücksicht auf Andersdenkende. Nur: Anders als im Christentum war diese Rückbesinnung nicht gehemmt durch geschichtliches Wahrheitsverständnis und das Gebot der Nächstenliebe. So kam es hier zu einem gewaltbereiten, autoritären islamischen Fundamentalismus, dem so genannten Islamismus. Das Bild aber, das er der Öffentlichkeit vermittelte, färbte auch auf den christlichen Fundamentalismus ab. Undifferenziert steckt man alle miteinander in einen Topf.

Falsches Märtyrertum

Man könnte sich nun natürlich gegen dieses unscharfe Bild wenden und sich trotzdem unbekümmert zum eigenen, christlichen Fundamentalismus bekennen. Dagegen spricht aber, dass erstens das in der Öffentlichkeit verbreitete Bild vom Fundamentalismus so fest negativ besetzt ist, dass man kaum dagegen wird ankommen können. Zweitens hat der christliche Fundamentalismus nun einmal gewisse Elemente in sich aufgenommen, die so biblisch gar nicht sind, wie man oft denkt. Ich halte es deshalb für falsches Märtyrertum, das Etikett "fundamentalistisch" unbedingt auf sich nehmen zu wollen.

Datum: 26.11.2002

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