Reform ist nötig – am 30. November entscheidet das Zürcher Stimmvolk über Kirchen- und Religionsgesetzgebung

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3x Ja aus Überzeugung: Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich
Nahe beieinander: Schloss und Kirche Uster
Angst ums ‚christliche Abendland’? Die SVP-Fraktion im Zürcher Kantonsrat

Die Religionsgesetzgebung ist in der Schweiz Sache der Kantone. Am 30. November entscheiden die Zürcher Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über das künftige Verhältnis des Staates zu Kirchen und Religionsgemeinschaften. Zur Abstimmung kommen das neue Kirchengesetz, das den Landeskirchen angemessene Freiräume bringt, und das Anerkennungsgesetz sowie die dafür grundlegenden Verfassungsänderungen.

Der moderne Kanton Zürich ist im 19. Jahrhundert aus dem Gemeinwesen erwachsen, das von der Reformation Zwinglis und Bullingers geprägt worden war. 1803/31wurde aus der Staatskirche die reformierte Landeskirche; im 20. Jahrhundert verflüchtigte sich die konfessionelle Geschlossenheit der Bevölkerung. Mit dem nun vorliegenden Paket wollen Staat und Landeskirchen ihr Verhältnis für die nächsten Jahrzehnte regeln; es soll von „gegenseitigem Verständnis und Respekt“ getragen sein.

Kirchen begründen und vermitteln Werte

Das Kirchengesetz hat die Justizdirektion unter Markus Notter zusammen mit den Spitzen der reformierten und katholischen Landeskirche erarbeitet. Laut dem Regierungsrat haben die Landeskirchen eine „umfassende, kritische, wertebegründende und wertevermittelnde und damit integrative gesellschaftliche Funktion. Der Staat anerkennt die auf Gemeinschaft gerichtete Kraft der christlichen Tradition und versucht ihr eine angemessene Form zu geben“ (Antrag des Regierungsrats vom März 2002).

Dreierpaket nicht mehr aufgeschnürt

Die drei Vorlagen zur Neuregelung des Verhältnisses zwischen dem Kanton Zürich und den Kirchen (es geht nicht um die innere Ordnung der Kirchen) sind nach dem Willen der Kantonsratsmehrheit ein Paket: Nur mit einem Ja zu den Verfassungsänderungen können das Kirchen- und das Anerkennungsgesetz in Kraft treten. Die EVP blitzte im Kantonsrat und vor Bundesgericht ab mit dem Begehren, die Verfassungsvorlage aufzuteilen, so dass die die Kirchen betreffenden Artikel gesondert zur Abstimmung kämen.

Aber es gibt drei Kästchen auf dem Stimmzettel. So können die Stimmberechtigten differenziert zu den Neuerungen Stellung nehmen, welche bei der Volksabstimmung 1995 (Nein zur Privatisierung der Landeskirchen) weitherum gefordert wurden.

Verfassungsänderungen

Die Verfassungsänderungen betreffen das Verhältnis des Staats zu den drei bereits öffentlich-rechtlich anerkannten Landeskirchen: Sie können sich neu weitgehend selbständig organisieren; ihr Recht, Steuern zu erheben, wird festgeschrieben.

Neu sollen sie Ausländern in kirchlichen Angelegenheiten das Stimm- und Wahlrecht gewähren können (drei von zehn Zürcher Katholiken sind ohne Schweizer Pass). Die Zürcher Landeskirchen sind im ganzen Land die einzigen, die dieses Stimm- und Wahlrecht nicht haben. Weiter wird die Möglichkeit geschaffen, andere Religionsgemeinschaften staatlich anzuerkennen. Es handelt sich um eine kann-Bestimmung – der Staat erhält formell keinen Auftrag.

Kirchengesetz

Das knapp formulierte Kirchengesetz (eines für alle Landeskirchen: die Reformierten, die römisch-katholische Körperschaft und die Christkatholiken) räumt auf mit alten Zöpfen. Es ermöglicht den Landeskirchen u.a. ein eigenes Personalrecht und Besoldungswesen; sie können auch Kirchgemeinden selbst einteilen. Die Steuergelder von Unternehmen sollen neu nur für nichtkultische Zwecke verwendet werden.

Statt wie bisher reformierte Pfarrerlöhne zu zahlen, will der Kanton künftig kirchliche Tätigkeiten „mit Bedeutung für die ganze Gesellschaft, insbesondere in den Bereichen Bildung, Soziales und Kultur“ (Art. 12) mit Beiträgen finanzieren, deren Höhe für sechs Jahre bestimmt wird. Die Beiträge werden den Landeskirchen gemäss ihren Mitgliederzahlen ausgerichtet.

Anerkennungsgesetz

Eine GfS-Umfrage ergab klare Ja-Mehrheiten zu den neuen Bestimmungen des Kirchengesetzes. Es kommt aber nicht allein zur Abstimmung: Zugleich will der Kanton, dessen Zentren sich ihrer multikulturellen Offenheit rühmen, die Grundlage für eine formelle Beziehung zu weiteren Religionsgemeinschaften schaffen.

Zahlreiche evangelische Freikirchen sind im Kanton verwurzelt; die Zahl der Orthodoxen steigt. Seit langem wird in der reformierten Kirche die staatliche Anerkennung der jüdischen Gemeinschaft als erstrebenswert angesehen, auch als Zeichen gegen den Antisemitismus. Doch das Gesetz will mehr: dass prinzipiell alle Religionsgemeinschaften, die demokratischen Kriterien genügen, um einen öffentlich-rechtlichen Status, um die „Anerkennung als Staatsreligion“, wie der EVP-Kantonalpräsident Peter Schäppi formuliert, nachsuchen können.

Demokratische Organisation als Bedingung

Das aus dem Kantonsrat stammende Gesetz zielt auf die Integration religiöser Gemeinschaften ins Gemeinwesen. Den kleinen unter ihnen kommt es mit Artikel 3 entgegen; danach können „mehrere Religionsgemeinschaften mit verwandtem Bekenntnis gemeinsam die Anerkennung beantragen“.

Wie die in diesem Artikel aufgeführten Bedingungen für eine Anerkennung (demokratische Organisation und Bejahung der schweizerischen Rechtsordnung, transparente Finanzen, Bedeutsamkeit für die Gesellschaft) gehandhabt werden, ist schwer abzuschätzen. Zu denken gibt, dass Anerkennungsentscheide des Regierungsrates nicht angefochten werden können.

Staatliche Anerkennung islamischer Gemeinschaften?

Zu reden geben die Muslime, die sich von einer Anerkennung vor allem mehr Respekt in der Gesellschaft versprechen, wie ihr Vertreter Taner Hatipoglu dem Kirchenboten sagte. Mit einer Anerkennung als privatrechtlich organisierte Vereine (die ihren Sitz nicht im Kanton haben müssen) würden Muslime die Erlaubnis zu Religionsunterricht und Seelsorge in staatlichen Schulen und Spitälern erhalten. Es geht nicht um Zürcher „Steuergelder für Koranschulen“, wie das Abstimmungsplakat des bürgerlichen Nein-Komitees (bezeichnenderweise mit Fragezeichen) unterstellt.

Schon die ‚kleine’ Anerkennung als privatrechtlicher Verein (kein Besteuerungsrecht) erlaubt den Gemeinschaften indes, ihre Mitglieder durch die Einwohnerkontrollen zu erfassen. Erleichterungen für den Moscheebau werden wohl auch erhofft. Die bürgerlichen Gegner des Anerkennungsgesetzes argumentieren, dass die rasch wachsenden muslimischen Gemeinschaften Zürichs noch nicht lange bestehen. Ihr Dachverband VIOZ verfolge primär politische Ziele, neben der staatlichen Anerkennung vor allem den Aufbau eines islamischen Zentrums in der grössten Schweizer Stadt.

Mehr Diskriminierung oder stabilerer Religionsfrieden?

Im Mediendienst der EVP wendet sich der Zürcher Kantonalpräsident, der Jurist Peter Schäppi, prinzipiell gegen die Anerkennung kleinerer Religionsgemeinschaften, da sich ihr öffentliches Wirken in sehr engen Grenzen halte. „In der Regel kümmern sie sich nur um ihre eigenen Anhänger. Da sich keine der anderen Religionsgemeinschaften mit den beiden Landeskirchen vergleichen lässt, besteht kein Bedürfnis nach ihrer öffentlich-rechtlichen Anerkennung. Der Kanton Zürich braucht keine neuen Staatsreligionen.“

Dies gilt für Peter Schäppi umso mehr, als es neben den künftig anerkannten weiterhin nicht anerkannte Gemeinschaften geben werde. „Daraus entstehen neue Ungerechtigkeiten. Mit einem Verzicht auf weitere Anerkennungen lässt sich die Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften durch den Staat viel besser erreichen. Insbesondere wird dadurch eine Diskriminierung nicht anerkannter Gemeinschaften vermieden. Nicht zuletzt entgehen nicht anerkannte christliche Freikirchen so der Abstempelung durch den Staat als Sekten.“

Dagegen argumentiert das Komitee der Befürworter, mit der Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften verstärke der Kanton den stabilen Religionsfrieden: „Denn Kirchen und Religionsgemeinschaften, die sich zu den Spielregeln des demokratischen Staates bekennen und in ihrem sozialen Wirken der Allgemeinheit dienen, stärken ihrerseits das friedliche Miteinander in unserer Gesellschaft.“

Was nicht in der Macht des Staates steht

Bei der Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die weder christlich noch jüdisch sind, stellt sich im Grunde die Frage, ob der säkulare, religiös neutrale Staat damit die für das Fortbestehen der Demokratie wesentlichen Werte stärkt. Wie der Regierungsrat im März 2002 unter Berufung auf den deutschen Verfassungsrechtler Böckenförde schrieb, „lebt der Staat von geistigen und ethischen Voraussetzungen, die er weder selbst schaffen noch garantieren kann“.

Reformierter Kirchenratspräsident: ‚Meilenstein setzen’

Regierung und Kantonsratsmehrheit, auch die Leitungen der Landeskirchen, treten entschieden für dreimal Ja ein. Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich, Weihbischof Paul Vollmar und René Zihlmann, Präsident der römisch-katholischen Zentralkommission wirken im Komitee «Pro Zürcher Kirchenvorlagen» ebenso mit wie der Präsident der vorberatenden Kantonsratskommission, Hansruedi Hartmann (FDP). Pfr. Reich schreibt in der reformierten Mitarbeiterzeitschrift ‚notabene’, es gelte die Chance zu packen und mit einem Ja zum ganzen Reformprojekt einen Meilenstein zu setzen.

Die SVP lehnt das gesamte Paket ab. In der gespaltenen FDP haben jene, die den Status der Landeskirchen überhaupt abschaffen, das heisst alle Religionsgemeinschaften privatisieren wollen, zusammen mit den Gegnern der Kirchensteuern und des Ausländerstimmrechts die Oberhand gewonnen.

Drei Kästchen: differenzierte Meinungsäusserung möglich

Neben dreimal Ja und dreimal Nein gibt es weitere Möglichkeiten (vgl. Links unten): Wer das Kirchengesetz unterstützt, aber sich prinzipiell gegen die Anerkennung weiterer Gemeinschaften stellt, kann die Verfassungsänderungen und das Anerkennungsgesetz ablehnen, in der Hoffnung, dass in einem zweiten Anlauf allein das Kirchengesetz und die dafür nötigen Verfassungsbestimmungen zur Abstimmung kommen.

Wer die fällige Neuordnung des Verhältnisses Staat-Landeskirchen begrüsst, kann die Verfassungsänderungen und das Kirchengesetz bejahen – und anderseits das Anerkennungsgesetz ablehnen, wenn er dem Staat Schritte in dieser Richtung verwehren will.

Texte:
Verfassungsänderungen, Kirchengesetz, Anerkennungsgesetz:
http://zh.ref.ch/vorlagen-kirchengesetzgebung.pdf

3 Ja: Überparteiliches Komitee «Pro Zürcher Kirchenvorlagen»:
http://www.pro-kirchenvorlagen-zh.ch/index_html/unterlagen/flyer.pdf

3 Ja: EVP-Votum für Kirchen- und Anerkennungsgesetz (Maja Ingold):
http://www.evpzh.ch/mediendienste/md03029.pdf

2 Ja – Stimmfreigabe: EVP-Votum für die Entflechtung – Stimmfreigabe zum Anerkennungsgesetz (Hans Fahrni):
http://www.evpzh.ch/mediendienste/md03028.pdf

Nein – Ja – Nein: EVP-Votum zur Ablehnung des Anerkennungswegs (Peter Schäppi):
http://www.evpzh.ch/mediendienste/md03025.pdf

3 Nein: Stellungnahme der Zürcher EDU:
http://www.edu-zh.ch, Rubrik: Abstimmen

3 Nein: Komitee aus FDP- und SVP-Kreisen:
www.kirchenvorlagennein.ch/

Frühere Livenet-Artikel zum Thema:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/6228
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/6247/

Datum: 29.10.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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