Wieviel Einfluss für Islamisten im französischen Rat der Muslime?

Musime
Paris

In der Schweiz machen Muslime gut vier Prozent der Bevölkerung aus, in Frankreich ist ihr Anteil doppelt so hoch: Über fünf Millionen Muslime leben in den Grenzen der Republik – Folge des imperialen Ausgreifens der Grande Nation nach Afrika. Die Grösse der Minderheit und die drückenden Integrationsprobleme rufen der Frage, wer für die Muslime sprechen und sie in Staat und Gesellschaft repräsentieren kann.

Der französische Staat, der mit Religionsgemeinschaften nicht verbunden ist, wünschte nach dem Muster der christlichen Kirchen und des Repräsentativrates der Juden auch eine Vertretung der Muslime. Nun wurde erstmal ein Rat der Muslime gewählt, der Conseil français du culte musulman (CFCM). In ihm haben die Islamisten, die auf die Durchsetzung koranischer Vorschriften auch in der europäischen Diaspora drängen, einen Drittel der Sitze errungen.

Der Rat wird auf nationaler und regionaler Ebene für alle wesentlichen religiösen Fragen zuständig sein, so für den Bau von Moscheen und islamischen Zentren, die Ausbildung der Imame (Geistlichen), die Spital- und Gefängnisseelsorge, muslimische Abteilungen auf christlichen Friedhöfen, die Veranstaltung von Feiertagen, die Schächtung der Opfertiere – und für die Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften.

Muslime national zersplittert

In Frankreich stammen über 80 Prozent der Muslime aus den drei Maghreb-Länder Algerien, Marokko und Tunesien. Trotzdem schafften es die drei grössten französischen Muslim-Organisationen (verbunden mit Algerien, Marokko bzw. der Muslim-Bruderschaft) nicht, sich auf die personelle Besetzung der Vertretung zu einigen; jede der drei suchte darin die Vormacht zu erringen. Die Rivalitäten offenbarten Zersplitterung, Misstrauen und einen Unwillen zur Machtteilung, der bekanntlich in der arabischen Welt genügend Vorbilder findet.

Paris dekretiert

Nach einem langen, fruchtlosen Hin-und-Her entschied der neue Pariser Innenminister Sarkozy letztes Jahr vorweg die Zusammensetzung der dreiköpfigen Spitze des Muslim-Rates. Für die nächsten zwei Jahre wurden der Präsident und zwei Vizepräsidenten bestimmt (je ein Vertreter aus den drei Organisationen). An den ersten zwei April-Sonntagen folgte nun die Wahl des 41-köpfigen Rates durch 4032 Delegierte von 995 Moscheen und Kultstätten. 88,5 Prozent der Delegierten hätten sich an der zweiten Wahlrunde am 13. April beteiligt, sagte ein Sprecher des Rats.

Auch die Auswahl dieser Wahlmänner (angeblich keine einzige Frau) zeigt die Schwierigkeiten, eine repräsentative Vertretung der verschiedenen Strömungen des Islam in Frankreich zu erreichen: Weil offenbar kein anderes Kriterium zur Verfügung stand (auch keine Mitgliederzahlen der einzelnen Moscheen), wurde die Grundfläche der Moschee oder des Kultraumes herangezogen: Je grösser das Gebäude, desto mehr Wahlmänner konnte es abordnen. Damit gab nicht die Zahl der Gläubigen, welche eine Moschee tatsächlich frequentieren, den Ausschlag.

‚Mehr Marokkaner als Muslim‘

Von den 41 Sitzen gingen bloss sechs an die Organisation der Moschee von Paris, die algerisch geprägt ist und deren Chef Dalil Boubakeur vom Innenminister als erster Präsident des Rats eingesetzt worden war. Dagegen gewann die promarokkanische Muslim-Föderation (FNMF) 16 Mandate. Algerische und marokkanische Muslime sind in Frankreich gleich zahlreich. Doch die Muslime aus dem immer noch nach archaischen Mustern regierten Marokko stimmten praktisch geschlossen für die FMNF-Kandidaten; sie seien „mehr Marokkaner als Muslime“, klagte ein islamischer Führer im Grossraum Paris, dessen Organisation die Wahl boykottierte.

Die als islamistisch eingeschätzte Union des organisations islamiques de France (UOIF) errang 13 Sitze; die restlichen sechs Mandate fielen an kleine unabhängige Listen, darunter zwei an die Organisation der Türken.

Vieles wird in den Regionen entschieden

Um Ansprechpartner in den Regionen Frankreichs zu erhalten, liess der Staat auch auf dieser Ebene Muslim-Räte wählen. Die Islamisten errangen in zwei der vier islamischen Schwerpunktgebiete: sowohl in der Region von Lyon als auch an der Mittelmeerküste (Provence-Alpes-Côte d'Azur) die Mehrheit.

Zu bestimmen bleiben in den regionalen Räten noch die Vorsitzenden. Im Elsass führt der Konvertit Abdallah Milcent die UOIF an, die nicht weniger als 42 Prozent der Stimmen machte. Der so genannte ‚Docteur Abdallah‘ ist bekannt als militanter Befürworter des Kopftuchs. Wie die Zeitung ‚Le Monde‘ schrieb, könnte Milcent mit Hilfe der algerischen Muslime den regionalen Vorsitz erringen.

Am Mittelmeer, in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, drückt das Resultat Distanz zu den Plänen der Marseiller Stadtregierung aus, eine Mannschaft algerischer Muslime mit dem Bau einer grossen Moschee zu betrauen. Ihre Organisation, die Moschee von Paris, gewann bloss 30 Prozent der Stimmen. Um den Regionalpräsidenten zu stellen, müssten die Algerier die Marokkaner auf ihre Seite ziehen.

Islamisten mit länderübergreifenden Listen erfolgreich

In der Pariser Region (Ile-de-France Centre), wo etwa 1,5 Millionen Muslime leben, hat der Präsident der islamistischen UOIF, Lhaj Thami Brèze, die besten Chancen fürs Regionalpräsidium. Er könnte laut ‚Le Monde‘ zur Nummer 2 des Islam in Frankreich aufrücken.

Die UOIF-Liste, die 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinte, versammelte Vertreter zahlreicher radikaler Gruppierungen, so auf dem dritten Platz den Türken Ahmet Bakcan, Vertreter der (in Deutschland stärksten) islamistischen Organisation Milli Görüs, mehrere Vertreter der islamistischen Gruppierung Tabligh, die den Muslimbrüdern nahesteht, und auch einen Komorer.

Die UOIF scheute sich im Wahlkampf nicht, moderne Marketing-Methoden einzusetzen: Sie beschaffte sich (ob legal, war vorerst nicht klar) die Adressen aller Wahlmänner des 13. April und schickte ihnen ein schön gestaltetes islamisches Glaubensbekenntnis auf Französisch und Arabisch. Im Begleitbrief hiess es: „Werte Schwester, werter Bruder, Ihre Verantwortung vor Allah und den Muslimen Frankreichs ist gewaltig; also laden wir Sie ein, sich zu beteiligen und unsere Bewegung, die für alle Muslime Frankreichs eintritt, zu unterstützen.“

Gemässigt oder radikal?

Laut der NZZ können die Islamisten ihren Einfluss nun mit einer starken Vertretung im CFCM offiziell geltend machen. Die Zeitung schrieb, sie hätten „zwar nicht direkt die Oberhand gewonnen, aber doch eine gute Ausgangsposition für eine Radikalisierung weiterer Teile der französischen Muslime errungen“.

Wie gemässigt der nicht den Islamisten zugerechnete Präsident Boubakeur ist, wird sich zeigen. Er hat bei Beginn des Irak-Krieges die Amerikaner als Nachfahren der Mongolenhorden beschimpft, welche einst nach der Einnahme Bagdads die Einwohner zu Zehntausenden abschlachteten...

Datum: 22.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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