Kommt es zum Irak-Krieg? – Die Stimmung in Israel

Jerusalem bei Sonnenaufgang

Die Israelis sind derzeit zwischen zwei Gefühlen hin- und hergerissen: Sie erhoffen einen neuen Irak-Krieg – und fürchten ihn zugleich. Dies schreibt der Politologe Shlomo Avineri in der Neuen Zürcher Zeitung. Er erinnert an die Schreckenstage während des Golfkrieges 1991, als 39 Raketen aus dem Irak auf die israelischen Bevölkerungszentren Tel Aviv und Haifa abgeschossen wurden. „Damals war Israel nicht Teil der Kriegskoalition und tat alles, um sich aus dem Krieg herauszuhalten. Es verzichtete damals auf Vergeltung und wurde damit zum einzigen Land auf der Welt, das einen solch massiven Raketenangriff unbeantwortet liess.“

Laut Avineri besteht kein Zweifel, dass sich der Irak „bei fortgesetzter Entwicklung von Massenvernichtungswaffen eines Tages gegen den jüdischen Staat wenden könnte“. Saddams Regime zahle jeder Familie eines getöteten palästinensischen Selbstmordattentäters 10‘000 Dollar ‚Solidaritätsgeld‘. Darum sei Israel daran interessiert, „Saddams Regime fallen zu sehen, wenn nötig mit Gewalt“.

Anderseits befürchten die Israelis, dass Bagdad in militärischer Bedrängnis Massenvernichtungswaffen gegen ihr Land einsetzen könnte, um es zu provozieren und sich die Unterstützung der arabischen Welt zu sichern. „In einem letzten Akt der ‚Götterdämmerung‘ könnte Saddam einen Angriff auf Israel mit B- und C-Waffen anordnen.“ So diagnostiziert Avineri zwei ähnlich bedrückende Szenarien: die fortgesetzte Bedrohung durch Saddam Hussein und die Gefahren bei seiner Entmachtung.

In Israel denkt man zurück an 1936

Die Weigerung mehrerer europäischer Länder, selbst im Rahmen der Uno militärisch gegen Saddam vorzugehen, erinnert die geschichtsbewussten Israelis „an den politischen Bankrott und das moralische Versagen Europas in den dreissiger Jahren“. Avineri zieht eine Parallele zur Lage 1936, als Hitler noch kein Land angegriffen, aber doch schon deutlich gemacht hatte, wozu er imstande sein würde.

Saddam, so Avineri, „steht in der Bilanz wesentlich schlechter da als Hitler 1936“. Unter anderem habe er Giftgas gegen seine eigene Bevölkerung eingesetzt und zwölf Jahre lang internationale Abkommen missachtet. Das abwartende Zuschauen der europäischen Politiker, das so genannte Appeasement gegenüber Hitler im Jahr 1936 war „moralisch falsch und politisch verheerend“ – darüber ist man sich heute einig. Die Aufrüstung war noch nicht weit gediehen; England und Frankreich hätten es damals in der Hand gehabt, mit einem Feldzug gegen Hitler die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu verhindern. „Es hätte nie einen Holocaust gegeben, und zwölf Millionen ethnische Deutsche wären niemals aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in Zentral- und Osteuropa vertrieben worden.“

Europäische ‚Duckmäuserei‘

Die Weigerung der deutschen Regierung, selbst mit einem Uno-Mandat an einem Krieg teilzunehmen, steht nach israelischem Empfinden für die in Europa verbreitete Duckmäuserei gegenüber dem Tyrannen; sie „erzeugt bei den Israeli den Eindruck eines Déjà-vu“. Umso mehr Anlass habe da die politische Rechte in Israel zu sagen: „Seht, seht, wieder einmal versagt Europa, es hat nichts gelernt aus den dreissiger Jahren. Am besten, wir verlassen uns auf uns selbst.“

Avineri, der Europakenner mit Jerusalemer Standort, blickt auf die letzten Jahre des Nahostkonflikts zurück und spricht vom tödlichen Schlag, den Arafat 2000/2001 in Camp David und Taba dem Friedensprozess versetzte, als er Clintons und Baraks Vorschläge ablehnte.

Wie weiter mit den Palästinensern?

Der in Israel verbreitete Eindruck von der Führungslosigkeit der Palästinenser habe die israelische Linke, die mit der Formel «Land für Frieden» einen Durchbruch erträumte, tief getroffen. Die in den letzten Wahlen geschlagenen Linksparteien hofften nun, dass sich mit einem amerikanischen Sieg im Irak die Chancen für eine Regelung mit den Palästinensern verbessern. Bei den Rechtsparteien überlege man dagegen, ob ein Sieg der USA „den Führungsanspruch Arafats endgültig beenden könnte“.

Avineri zitiert den preussischen klassischen Theoretiker des Kriegs Clausewitz, nach dessen Einschätzung Kriege keinem Plan folgen und unvorhersehbare Folgen haben: „Am Ende wissen auch die Israeli nicht, welche Konsequenzen ein Krieg haben wird - auch wenn sie die Nation sind, die in den letzten Jahrzehnten am meisten Kriege über sich ergehen lassen musste.“ Einig sei sich die Bevölkerung darin, dass der Nahe Osten ohne Saddam Hussein sicherer wäre.

Hoffen auf Krieg als Zeichen der Ausweglosigkeit

Die liberale Jerusalemer Tageszeitung ‚Haaretz‘ kritisiert Sharons Warten auf den amerikanischen Militärschlag „in der verzweifelten Hoffnung, dass ihm Rettung aus der Not folgen wird“. Die Regierung in Jerusalem wetteifere beinahe mit Washington im Wunsche, Saddam kriegerisch zu entmachten. Die Zeitung deutet dies als Schwäche von Ministerpräsident Sharon: „Die Abhängigkeit der Führung des Landes von der Durchschlagskraft einer extremen und gewalttätigen äusseren Macht dieser Art bezeugt nur den totalen Bankrott der Staatsführung, ihre Angelegenheiten normal zu handhaben.“

Sharon sei unfähig, die gewaltige Last des Palästinenserkonflikts direkt mit politischen Mitteln anzugehen. Auch wisse er keinen Auswag aus der schweren Wirtschaftskrise, die Israel mit der Intifada durchmacht. Nun fehlen dem früheren Panzergeneral auch die Koalitionspartner für die neue Regierung. „Sharon heftet seine Hoffnungen an eine fremde Macht, an Entwicklungen im Ausland, an Krieg – was doch von Natur aus ungeheuerlich ist.“ Die aktuelle Entwicklung zeigt laut dem Zeitungskommentar, wie ratlos die israelische Regierung und ihre Armeeführung sind.

Datum: 15.02.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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