Indien - ein riesiges Land gerät aus den Fugen

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Hindus zerstören moslemischen Laden
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Ind. Tempel

In Indien wächst die Besorgnis über die enormen sozialen Spannungen, die von fanatischen Hindus unter religiösen Vorzeichen weiter angeheizt werden. Die extremen Hindu-Massenorganisationen zielen auf einen Staat, in dem die religiösen Minderheiten der Willkür der Hindu-Mehrheit ausgeliefert wären. So wird die pluralistische Grundlage des modernen indischen Staats untergraben, die bisher das Neben- und Miteinander der unterschiedlichsten religiösen Gemeinschaften, Völker und Kulturen ermöglichte.

Aggressive Hasskampagnen

Das Machtzentrum der radikalen Hindus ist das Nationale Freiwilligenkorps RSS, das die Kader für zahlreiche Massenorganisationen ausbildet und diese ideologisch steuert. Eine dieser Organisationen, der für die Förderung der Hindu-Kultur gegründete Hindu-Weltrat VHP, hat sich durch aggressive Hasskampagnen gegen Muslime und Christen und lärmige Intoleranz gegenüber westlichen Einflüssen in die erste Reihe gedrängt. Um jeden Preis will der VHP auf dem Gelände einer historischen Moschee in Ayodhya, die 1992 von Fanatikern zerstört wurde, dem Hindu-Gott Ram einen Tempel errichten. In vielen Teilen Indiens werden Mitarbeiter von Kirchen eingeschüchtert und misshandelt. Aber auch Studentenpärchen, die den Valentinstag begehen wollen, bekommen die Rage der fanatischen Hindus zu spüren, die in Zehntausenden von Zellen aktiv sind.

RSS und VHP bedrängen die Regierungen, sowohl die Unionsregierung in Delhi wie die Regierungen der Gliedstaaten, das Gemeinwesen nach ihrem Grundsatz ‚Eine Nation, eine Religion, eine Kultur' umzumodeln. Der RSS-Vorsitzende Sudarshan hat die Christen Indiens aufgefordert, sich in die Hindu-Kultur (wie das RSS sie will) einzufügen und ihre Heiligen Schriften umzuschreiben! Den 125 Millionen Muslimen des Landes riet Sudarsham, sie sollten nicht auf eigene Rechte pochen, sondern ihre Zukunft in die Hände der Hindus legen.

Verfassung garantiert Rechte aller Religionsgemeinschaften

Indiens Verfassung, nach der 1947 errungenen Unabhängigkeit erarbeitet, begründet einen säkularen, pluralistischen Staat, nach dem Grundsatz ‚unity in diversity' (‚Einheit in Verschiedenheit'). Die Verfassung garantiert den Angehörigen aller Religionsgemeinschaften gleiche Rechte; sie ermöglicht ihnen, ihre Religion frei auszuüben und dafür zu werben. Doch das verfassungsmässige Recht, von einer Religion zur anderen zu wechseln - und vor allem die Beeinflussung zum Religionswechsel - wird von den radikalen Hindus in den schärfsten Tönen, auch mit Schlagstöcken bestritten. Dies hat damit zu tun, dass in vernachlässigten und unterdrückten Gruppen und Stämmen viele Menschen in den letzten Jahrzehnten zum Glauben an Christus gefunden haben.

Im Oktober hat der südindische Gliedstaat Tamil Nadu, in dem zahlreiche starke christliche Kirchen und Missionswerke tätig sind, die Beeinflussung zum Wechsel der Religion, zur ‚Conversion' verboten. Wer andere dazu bringt, muss mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen, wer seine Religion wechseln will, muss dies zuerst von Beamten am Ort genehmigen lassen! Dabei ist in Tamil Nadu nicht die BJP, der politische Arm des RSS, an der Macht, sondern eine Regionalpartei. Und die extremen Hindu-Bewegungen vertreten bloss einen winzigen Teil der gegen 800 Millionen Hindus.

Aber sie machen die Schlagzeilen, sie geben den Ton an, sie vergiften das öffentliche Klima. Der bekannte indische Bürgerrechtskämpfer und Filmemacher John Dayal, Generalsekretär des Allindischen Christenrats, beklagt in der in Bangalore erscheinenden Zeitschrift ‚Integral Liberation' (Nummer vom September 2002) ein "extrem zerbrechliches soziales Gleichgewicht" und eine drastisch gesunkene Toleranz.

Dayal wurde letztes Jahr in Indien als Verräter hingestellt, weil er an einem Hearing des US-Aussenministeriums in Washington über die bedrohte Religionsfreiheit in seinem Land berichtete. Dabei gab der indische Innenminister Advani, ein RSS-Hardliner, später selbst vor dem Parlament zu, dass zwischen 1998 und 2000 über 400 Fälle von Gewalt gegen Christen (darunter mehrere Morde) registriert worden waren.

Massaker in Gujarat

Im Mai 2002 nahmen die Behörden in der nordindischen Stadt Faizabad über 600 Personen fest, die den Beginn des indischen Aufstands gegen die britischen Kolonialherren von 1857 feiern wollten. Warum missfiel diese patriotische Versammlung den Mächtigen? Weil ihre Lieder die Verbrüderung von Hindus und Muslimen ausdrückten, sagt Dayal. Denn kurz zuvor, Anfang März, hatten fanatische Hindus im westlichen Gliedstaat Gujarat tagelang Jagd auf Muslime gemacht, ihre Häuser geplündert und verwüstet und vermutlich 2000 Muslime erschlagen, erstochen und verbrannt. Die Ordnungskräfte wurden von der BJP-Regierung zurückgehalten, was in Indien auf heftigste Kritik stiess. Doch der Regierungschef Narendra Modi verlor sein Amt nicht. Im Gegenteil: Er kämpft in den Wahlen zum Parlament von Gujarat, die am nächsten Donnerstag, dem 12. Dezember, stattfinden, um die absolute Mehrheit!

Laut Dayal ist dies nur möglich, weil mit der politischen Elite auch die indische Oeffentlichkeit eine Aufarbeitung blutiger Exzesse der Vergangenheit scheut. "Der Staat, die herrschenden Klassen und ein bedeutender Teil der Zivilgesellschaft verschliessen die Augen vor der Krise, die unausweichlich ist in einer pluralistischen Gesellschaft mit einer derart traumatischen 2000-jährigen Geschichte ethnischen und religiösen Streits." Nie habe man Versöhnung politisch wirklich angestrebt, nie eine Wahrheitskommission (wie in Südafrika) eingesetzt oder die Verantwortlichen schwerster Verbrechen (wie in Nürnberg) vor Gericht gestellt.

Buddhisten wurden assimiliert

Indien rühmt sich einer langen Geschichte religiöser Toleranz, in der neben dem Hinduismus auch der Buddhismus zur Blüte kam. Doch Dayal fragt, wo denn diese Buddhisten (in Indien 1000 Jahre nach Buddha offenbar die Mehrheit der Bevölkerung) heute geblieben sind. Stumme Antwort geben Ruinen buddhistischer Tempel, im Land verstreut: Die buddhistischen Inder (nicht zu verwechseln mit den Anhängern des tibetanischen Buddhismus) "wurden innert ein paar hundert Jahren assimiliert oder ausgelöscht."

Indiens Hindus litten Jahrhunderte unter islamischen Herrschern, die das gemeine Volk ausbeuteten, um Festungen, Paläste und das Taj Mahal zu errichten. Doch es gab später ein Miteinander von Hindus und Muslimen: im Kampf für die Unabhängigkeit. Diese Verbundenheit endete 1947, mit der Teilung des britischen Kolonialgebiets in Pakistan und Indien, in einen muslimischen und einen mehrheitlich hinduistischen Staat. Die Teilung war von Vertreibungen und grausamen Massakern begleitet, die schätzungsweise einer Million Menschen (!) das Leben kosteten. Indien möchte solche Zeiten vergessen machen, aber laut Dayal drohen die dunklen Seiten seiner Geschichte, weil nicht aufgearbeitet, das Land immer wieder einzuholen.

"In besseren, ruhigen Zeiten wird zwar Toleranz gelebt, doch kann sie aggressiven Wirtschaftskräften oder Entwicklungskrisen nicht stand halten. Toleranz ist auch unter die Räder gekommen, weil Politiker im Wahlkampf Massen hinter sich scharen wollen." So hat sich laut Dayal in Indien ein "offizieller, das ganze öffentliche Leben erfassender Zynismus ergeben, der durch die Unterstützung der Massen geheiligt wird. In dieser zynischen Atmosphäre wird demokratischen Abläufen und dem Walten des Gesetzes - den Faktoren, die eine echte Demokratie ausmachen - durchgängig Gewalt angetan. Dies geschieht durch Intrigen auf der Ebene der Kaste, der Religion oder des Clans sowie durch brutale Gewalt."

Minderheiten im Staat untervertreten

Dayal verweist darauf, dass Muslime, Dalits (Kastenlose) und andere Minderheiten zwar 40 Prozent der Bevölkerung stellen, in der Polizei und der Armee aber nur 5 Prozent ausmachen. In der höheren Bürokratie und im Justizapparat erreiche ihre Vertretung keine 2 Prozent. "Darum müssen sich religiöse Minderheiten und die Gruppen, die im Kastensystem eine niedrige Stellung haben, unausweichlich unwohl fühlen." Wenn ein Verbrechen untersucht wird, fällt der Verdacht zuerst auf Dalits. Und "während der Hindu-Migrant aus Bangladesh als Flüchtling angenommen wird, bleibt der muslimische Flüchtling aus Kashmir immer ein Fremder. Sogar der gewöhnliche Muslim wird als ein Agent Pakistans, als Spion und Saboteur angesehen. Diese Hass-Kampagne vonseiten der extremen Hindus gehört heute so zum indischen Alltag, dass die Öffentlichkeit sie kaum mehr zur Kenntnis nimmt."

Dass mit der Agitation für ein wahrhaft hinduistisches Indien auch der nuklear aufgeladene Konflikt mit Pakistan geschürt wird, macht die Sache noch unheimlicher. Dayal sieht nur einen Weg aus der gefährlichen Lage, in der sich das Riesenland mit seinen abgründigen Gegensätzen befindet: Mit aller Kraft, "ja rücksichtslos" muss Indien den Grundsätzen seiner Verfassung, die den Pluralismus ermöglichen, nachleben. "Toleranz muss gesetzlich durchgesetzt werden. Allein Frieden mit Gerechtigkeit, die Zusicherung, dass Gesetze eingehalten werden, und die Aussicht auf gleiche Chancen werden den Minderheiten helfen, das frühere Vertrauen in den Staat wieder zu gewinnen. Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister Indiens, versprach eine moderne Gesellschaft ohne rassische, religiöse oder Kasten-Vorurteile. Es ist Zeit, zu diesem Versprechen zurückzugehen, nicht allein für Indiens Zukunft, sondern wegen des Friedens auf dem Subkontinent."

Autor: Peter Schmid

Datum: 07.12.2002

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