Die "Mur des Reformateurs" ist bis zur überraschenden Schlussszene von Stadtmauern verstellt; vor ihnen ereignet sich mit 40 Schauspielern, Sängerinnen und Bläsern das Genf des mittleren 16. Jahrhunderts. Die Stadt hat den französischen Humanisten und Bibelgelehrten Jean Calvin zurückgeholt, um die eben beschlossene Reformation zu stabilisieren. Doch Ruhe kehrt nicht ein: Mit den Glaubensflüchtlingen, die Genf zuströmen, wachsen die sozialen Spannungen gefährlich; dazu kommen Inflation und die Pest. "Calvin Genève en flammes" bildet in 18 Szenen entscheidende Momente in Calvins Ringen um ein heilige, Gott wohlgefälliges Genf ab. Die Stadt und der Reformator, gespielt von Michel Kullmann, sind die Hauptpersonen; der Bogen spannt sich von seiner zweiten Berufung 1541 bis zum Tod 1564. Während eindreiviertel Stunden erleben wir Calvin als Magister, Schiedsrichter und Vermittler zwischen (über)eifrigen Mitstreitern und unberechenbaren Gegnern, als Ehemann und Moralapostel - und immer wieder als zielstrebigen (auch machtbewussten) Theologen. Das von Michel Beretti geschriebene und von François Rochaix (Winzerfest Vevey) inszenierte Schauspiel bringt Psalmenlieder jener Zeit mit einem Chor schwungvoll zu Gehör; es macht die Theologie zum Salz der Auseinandersetzungen im Alltag. Die Marktfrauen erörtern, was die Prädestinationslehre, eben in der Predigt dargelegt, für den Verkauf ihrer Fische bedeute. Calvin erklärt dem alteingesessenen Genfer, der mit der Reformation private Freiheiten und Genüsse errungen haben will, bei einem Gläschen, warum er die Askese hasst - aber die Ausschweifung kompromisslos bekämpft. Die laszive Tänzerin aus reichem Haus, der im Glaubenszweifel versunkene Mann, der stolze Leugner der göttlichen Dreifaltigkeit: sie alle kämpfen mit dem hageren Mann im Talar, dem eine unerschöpfliche Energie zu eigen sein scheint. Amüsant die späte Rückkehr des Geistlichen zu seiner Frau Idelette; sie gehen, einander das Hohelied Salomos zitierend, in die Nacht. Später trauert er um seine Gattin - und gibt zu, angesichts ihres Hinschieds Gott gehasst zu haben. Das Stück setzt einiges an Hintergrundwissen voraus, und Deutschsprachige, die (unvollständige) Übertitel links der Bühne lesen können, tun gut daran, vorab den Text des Stücks (als Buch erhältlich) oder eine Einführung zu Calvin, etwa den gehaltvollen Band von Peter Opitz, zu lesen. Faszinierend ist das Schauspiel wegen der zahlreichen Ebenen, auf denen Calvin sich engagiert, wobei alles internationale Wirken als Theologe, Ratgeber und Stratege der Reformation unerwähnt bleibt. Die Rhonestadt, zu deren Aufstieg Calvin und seine Mitstreiter die Weichen stellten, nimmt den Reformator neu wahr. Die Calvin-09-Veranstalter um den rührigen Pfarrer Roland Benz, dem man für die Realisierung seines Traums gratulieren darf, hoffen auf weitere warme und trockene Sommerabende (an ihnen bevölkert sich vor dem Spiel auch das "Hugenottendorf", in dem unter anderem am Spiess gebratenes Wildschwein genossen werden kann) und auf insgesamt 34'000 Besucher bis zur Dernière am 26. Juli. Calvin ist zurück in Genf - die Medien haben das Gedenkjahr vielfach gewürdigt; nun bietet ein einzigartiges Spektakel Gelegenheit, dem vielfach verkannten und geschmähten Mann neu zu begegnen. Und ein Feuer zu sehen, das die Stadt verändert. Was der Glaube an Christus, Herrn über alle, heute bewegen könnte, wenn er mit einer weitgespannten Vision erfüllt und entschlossen gelebt würde - die Frage des Genfer Dramas darf uns übers Calvin-Jahr hinaus begleiten. Alle Infos zu Calvin Genève en flammes Ziel: eine heilige Stadt
Der Alltag zwischen Frömmigkeit…
…und Ausschweifung
Ganz in Genf
Aufführungen bis 26. Juli
Tickets
Preisermässigungen für Familien (Schauspiel für alt und jung ab 10 Jahren), Gruppen und Jugendliche unter 20. Das Schauspiel (mit deutschen und englischen Übertiteln) findet jeden Abend (ausser montags) um 21 Uhr statt. Bei Regen wird es ins Théâtre du Léman verlegt.
Datum: 04.07.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch