Der Traum vom Chor
Ich sehe die Vielfalt christlicher Kirchen als Chor. Manche singen «methodistisch», andere «reformiert», wieder andere «charismatisch» und noch andere «täuferisch». Ich glaube, dass Jesus diesen Chor mag – und dass er sich freut, wenn wir unsere eigene Stimme sicher singen und gleichzeitig in den vielstimmigen Chor der christlichen Traditionen einbringen.
Ich habe gelernt, die eigene (täuferische) Stimme mit Überzeugung und Freude zu singen – und ich singe mit ebenso grosser Begeisterung im Chor. Ich höre gerne die anderen Stimmen. Sie bereichern mich. Sie zeigen mir Melodien und Tonlagen, die ich vielleicht (noch) nicht kenne. Und sie fordern mich heraus, genau hinzuhören und meine Melodie in den Gesamtklang des Chors einzubringen.
Begegnungen, die mich geprägt haben
Vor mehr als dreissig Jahren habe ich die ETG im Rahmen der Jugendverantwortlichen in der SEA vertreten. Die Tagungen, die uns während Jahren als Jugendleiter zusammen brachten, haben meinen Glauben und meine Arbeit in Theologie und Gemeinde geprägt.
Das Doktoralstudium am Oxford Centre for Mission Studies hat mich mit Theologinnen und Theologen vieler Kirchen auf allen Kontinenten zusammengebracht: Die Begegnungen mit Christen aus Lateinamerika, die im Schnittfeld von Befreiungstheologie und Pfingstbewegung forschten, mit Kollegen, welche Gemeindewachstum in Südkorea untersuchten, mit der Schwester aus der Gemeinschaft von Mutter Teresa aus Kalkutta, mit dem Afrikaner, der sich mit dem Kirchenverständnis unabhängiger afrikanischer Gemeinden befasste – sie alle haben meinen Horizont für den Chor der christlichen Kirche erweitert.
Die Partnerschaft des Theologischen Seminars Bienenberg (dessen Leiter ich jahrlang war) mit dem Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau hat eine faszinierende Zusammenarbeit einer täuferisch-freikichlichen Institution mit einem in reformatorisch-pietistischer Tradition stehenden Seminar ermöglicht.
Die Studierenden im Masterprogramm (der oben genannten Partnerschaft) bilden einen multikonfessionellen Chor. Da sitzen im Kurs «Liturgik & Homiletik» nebeneinander die reformierte sozialdiakonische Mitarbeiterin und der freikirchliche Pastor, der charismatische Gemeindegründer und der Offizier der Heilarmee, die Pastorin einer Pfingstgemeinde und der Bruder einer katholischen Ordensgemeinschaft. Jede ist herausgefordert, ihre Stimme mit Gewissheit zu singen – und gleichzeitig auf die Anderen zu hören und im Chor zu singen.
Im Sommer 2006 hatte ich das Vorrecht, die täuferischen Gemeinden an der Europakonferenz des Global Christian Forum zu vertreten. Umfassender kann man sich den Chor nicht denken. Unvergesslich ist mir der Workshop zum Thema «Evangelisation und Proselytismus in Osteuropa», den ich zu leiten hatte. Wenn orthodoxe Kirchenführer und westliche, evangelikale Evangelisten darüber ins Gespräch kommen, wie legitime Evangelisation und negatives Abwerben von Mitgliedern unterschieden werden können, dann wird Chorsingen anspruchsvoll …
Diese und noch viele andere Erfahrungen haben mein Leben geprägt. Ich habe auf diesem Weg auch gelernt, dass der Chor grösser ist, als die Evangelische Allianz und der Freikirchenverband – und dass er über die Schweizer Grenzen hinaus geht. Fritz Schwarz hat seinerzeit gefordert: «Lobsänger Gottes sollen wir werden.» Ich füge hinzu: «Chorsänger sollen wir werden! Damit das Wirklichkeit wird, was die Engel in der Weihnachtsnacht verkündet haben: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf der Erde…».
Datum: 30.06.2012
Autor: Bernhard Ott
Quelle: ideaSpektrum Schweiz