"Freude und Zufriedenheit kann man sich nicht selber geben"

Glücklich

Die Mehrheit der Schweizer hält sich für glücklich. Dies ergab kürzlich die Studie einer Versicherungsgesellschaft. Ihr Glück führten die Befragten auf Gesundheit, finanzielle Sicherheit, Lebenspartner und Kinder zurück. Doch genügen diese Faktoren wirklich, um glücklich zu sein? Walter Müller befragte Adrian Schenker (63) zu den Quellen des Glücks. - Der Theologe ist Professor am Biblischen Institut der Universität Freiburg (Schweiz).

Müller: Es heisst, das Fehlen von Glück sei einfach festzustellen, dessen Vorhandensein jedoch nicht. Wann ist ein Mensch glücklich?
Adrian Schenker: Es verhält sich mit dem Glück ähnlich wie mit der Gesundheit, die man auch nur schwer feststellen kann. Das Fehlen der Gesundheit, nämlich die Krankheit, ist hingegen eindeutig. Auch der Friede ist schwierig zu identifizieren, einfach hingegen dessen Fehlen. Positive Lebenssituationen wie Glück, Gesundheit und Friede sind schwer definierbar. Man kann aber sagen, dass Glück mit Freude am Leben zu tun hat: Glück besteht nämlich dann, wenn Freude die Sorgen überwiegt.

Man unterliegt im Leben vielfach Sachzwängen oder Bedrängnissen. Muss man sich innerlich frei machen, um glücklich zu sein?
Schenker: Dies ist ein wichtiger Punkt. Es ist ja in keinem Leben restlos alles so, wie man es sich wünschen möchte oder erträumt. Es kann immer etwas fehlen, auch wenn man gesund und reich ist. Es fehlt immer etwas, was andere haben, und unseren Neid wecken kann. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass jemand einen guten Beruf hat, gesund ist und finanziell nicht darben muss. Aber er ist etwas älter geworden und sieht jemanden, der jünger ist. Da kann das Gefühl des Neides in ihm aufsteigen, weil er nicht mehr so jung und schön ist. Also wird man unzufrieden, weil man etwas verloren hat.

Was Sie mit innerer Freiheit meinen, ist, dass wir ohne Grund und ohne Unzufriedenheit hinnehmen können, dass einige Dinge fehlen, die wir auch noch gerne hätten, aber nun einmal nicht haben. Dass wir das so akzeptieren, ohne uns in der Freude stören zu lassen über die Dinge, die uns tatsächlich gegeben sind.

Ist das Glück nicht eine Frage der Anlage, des angeborenen Charakters eines Menschen? Es gibt doch Menschen, die von Geburt an einen Hang zum Unglücklichsein haben - gleich in welchen Umständen sie leben. Andere sind von Natur aus glücklich.
Schenker: Es gibt Menschen, die ein eher unzufriedenes Temperament haben. Sie nehmen öfter wahr, was ihnen fehlt, und sind weniger geneigt, das, was sie besitzen, zu schätzen und sich daran zu freuen. Dieses Verhalten ist aber nicht nur ererbt, entscheidend ist auch eine bewusste, gewollte Einstellung. Man muss ja in verschiedenen Lebenssituationen einen Verlust verschmerzen - sei es, dass uns etwas verwehrt oder genommen wird, sei es, dass uns eine Möglichkeit nicht zugänglich ist. Darauf muss sich jeder Mensch einstellen.

Auch jemand, der zunächst geneigt wäre, sich sofort zu beklagen, kann zu sich selber sagen: "Das ist jetzt deine spontane veranlagungsgemässe Reaktion. Aber es ist nicht gut, wenn du dir das Leben vergällen lässt durch deine Unzufriedenheit. Versuch es also positiv zu nehmen."
In dem Sinne, glaube ich, gehört zum Glück auch ein Stück weit das Glücklich-Sein-Wollen, indem wir eben gute Miene zum bösen Spiel machen. Das heisst in einem noch tieferen Sinn, als es das Sprichwort ausdrückt, dass wir bewusst das annehmen, was uns freut, so dass das Positive das Übergewicht hat und das Negative weniger ins Gewicht fällt.

Um das Bewusstsein in diese Richtung zu entwickeln, ist wohl auch eine geeignete Weltanschauung wichtig. Welche Rolle kann dabei die Religion spielen?
Schenker: Die Weltanschauung spielt eine sehr grosse und wichtige Rolle, weil der Glaube uns von vorneherein eine positive Einstellung zum Leben gibt. Für den christlichen wie für den jüdischen oder muslimischen Glauben gilt: Wenn ich von vorneherein weiss, dass ich von Gott erschaffen - also gewollt - worden bin und erkenne, dass Gott mich liebt, ich also in seinen Augen etwas bedeute, dann habe ich zu mir ein positives Verhältnis. Selbst wenn viel Negatives da ist, kann ich mir sagen: "Etwas Positives muss in meinem Leben sein. Ansonsten würde Gott sich nicht so sehr um mich kümmern und sich mir zuwenden." Deswegen spielt der Glaube für das Glück eine wichtige Rolle.

Und es kommt noch etwas hinzu: Der Glaube gibt den Dingen einen neuen Wert. Denn die schönen Dinge dieses Lebens haben mit dem Glauben nicht allen und ausschliesslichen Wert. Wenn ich etwa an Franz von Assisi denke, der arm sein wollte, kann ich aus dem Glauben heraus sagen: "Zwar ist es schön, reich zu sein, denn Reichtum kann Freude und Glück mit sich bringen. Doch es gibt andere Quellen, die viel grössere Freude vermitteln."

Könnte man also sagen, dass es zwar reichen Menschen leichter fällt, glücklich zu sein, doch dass Reichsein nicht genügt, um glücklich zu sein?
Schenker: Genau. Weder die Gesundheit allein, Geld allein oder eine schöne Arbeit allein genügen. Das ist das Geheimnis beim Glück: Man kann diese Dinge haben und unglücklich sein, und man kann sie nicht haben und trotzdem glücklich sein. Glück hängt also noch von etwas anderem ab. Obwohl dies alles gute und wertvolle Dinge des Lebens sind, garantieren sie allein das Glück nicht.

Der Glaube zeigt vielleicht besser noch als andere Meinungen, wo die Quellen der Zufriedenheit und Freude und damit des Glücks liegen. Und ich möchte noch hinzufügen: Man kann glücklich sein in einem Unglück. Es gibt Leute, die ein schweres Schicksal tragen und trotzdem glücklich sind. Das Unglück bringt es nicht fertig, das Glück dieser Menschen zu zerstören. Offenbar fällt das Glück bei ihnen stärker ins Gewicht als ein Unglück.

Spielt dabei eine Rolle, ob man einen Sinn im Leben sieht?
Schenker: Ich glaube, froh kann man nur sein, wenn man einen Sinn sieht. Sinn bedeutet: Man ist nicht überflüssig auf dieser Welt. Man kommt sich nicht als zu viel vor oder ist sich selber nicht lästig, sondern man freut sich, dass man da ist und lebt. Wenn man weiss, dass man gebraucht wird, dass man jemandem willkommen ist, dass man geliebt wird und dass man eine Aufgabe zu erfüllen hat, dann kann man das in der Aussage zusammenfassen: Mein Leben hat einen Sinn.

Kann man die Gewissheiten, die Sie eben genannt haben, als Glücksfaktoren bezeichnen?
Schenker: Es sind grosse Glücksfaktoren. Aber: Es sind keine automatischen Glücksfaktoren. Man muss sich auch hineingeben. Wenn man sich etwa darüber freuen will, dass man gebraucht wird: Dann muss man natürlich auch gebraucht werden wollen. Das heisst, man muss seine Zeit und Kraft zur Verfügung stellen. Wenn man sich weigert und sich sagt, "ich will meine Freizeit haben und selber über mich verfügen", dann kann man nicht gleichzeitig diesen Glücksfaktor haben wollen, der darin besteht, dass man für andere Menschen willkommen und kostbar ist. Denn das setzt voraus, dass man ihnen entgegengeht und sich in diese Beziehung hineingibt.

Ist in dieser Sicht der forcierte Individualismus, der auch in unserer Gesellschaft gepflegt wird, sozusagen ein Rezept zum Unglücklichsein?
Schenker: Ich glaube es ein Stück weit. Glück ist wie gesagt Freude und Zufriedenheit. Und diese Freude und Zufriedenheit kann man sich nicht selber geben - wenigstens nicht zu 100 Prozent. Man muss sie ein Stück weit geschenkt bekommen. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass Freude mit Dankbarkeit zu tun hat. Dankbar sind wir am ehesten, wenn wir etwas bekommen - und nicht wenn wir alles selber fabriziert, selber geleistet haben.

Der übertriebene Individualismus, bei dem man nur auf sich, auf seinen Vorteil und seine Termine schaut, nimmt ja die Möglichkeit, dass man beschenkt wird, oder dass man etwas ganz unerwartet, unverdient und ungeplant bekommt. Ich finde es etwas ganz Tiefes, dass man bereit ist, sich beschenken zu lassen und zu sagen: "Ich schulde nach vielen Seiten hin Dank, weil ich von vielen Seiten Dinge bekommen habe, die mich reich machen." Wer das nicht will, der stört sein eigenes Glück.

Sind bewusste, freiwillige Opfer glücksbildende Faktoren?
Schenker: Ja, ich glaube es. Etwas hingeben, damit etwas wachsen kann, damit jemand Freude hat, damit andere in irgendeiner Weise einen Vorteil haben und sehen, dass das zur Zufriedenheit und zum Glück vieler anderer beiträgt, das ist etwas Schönes. Man hat dann das Gefühl, dass man etwas beitragen konnte, dass man nicht nutzlos war. Man hat nicht nur an sich gedacht. Das sind immer Glücksmomente.

TV-Programmhinweis für den 19./20. Oktober:

Glück muss man haben

Das Thema Glück von einer anderen Seite gesehen: „Fenster zum Sonntag“ begleitet Menschen auf der spannenden Suche nach ihrem Lebensglück.

Sind Schweizer glückliche Menschen? Die erwähnte Studie zeigt, dass drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer glücklich sind. Doch das Glück ist ein scheues Wesen und weilt nicht gern am selben Ort, so dichtete einst Heinrich Heine. Jeanette Meier macht sich auf die Spuren des Glücks und verfolgt dieses bis in den Pavillon "Happy-End" an der Expo.02. Beni Thurnheer verlost als Mr. Benissimo regelmaessig Millionenbeträge. Für die Zuschauer ein viel versprechendes Glück. Was verbindet ihn mit dem Glück, steht er mit ihm auf besonders gutem Fuss?

Ein Magazin in der TV-Reihe FENSTER ZUM SONNTAG
SA 19.10.2002: 17.30 Uhr auf SF2
SO 20.10.2002: 11.30 Uhr auf SF2

Quellen: Kipa/Fenster zum Sonntag

Datum: 08.10.2002
Autor: Walter Müller

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung