Nationalrat Ulrich Siegrist: „Ein Rückzug ins Private kann nicht der Weg des Christentums sein"

SVP-Nationalrat Ulrich Siegrist: "An ihren Taten sollt ihr sie erkennen."

Während die Trennung der Organisation von Kirche und Staat seine Zustimmung findet, gehören Christentum und Politik für SVP-Nationalrat Ulrich Siegrist zusammen. Der 60-jährige Aargauer Protestant ist seit kurzem Präsident der Stiftung "Brot für alle". Im Interview zeigt er sich erstaunt darüber, wie stark die CVP bei der Asylvorlage der SVP "nachgelaufen" sei, weshalb die Stimme der Mitte fast stumm geblieben sei.

Walter Müller: Braucht es ein "C" in der Politik? Schliesslich werden in allen Parteien universale Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität vertreten, wie sie von den Religionsgemeinschaften verteidigt werden.
Ulrich Siegrist: Da sage ich: "An ihren Taten sollt ihr sie erkennen." Es ist so, dass in den allgemeinen Begriffen fast alle Parteien übereinstimmen. So wie Emmanuel Kant und Jesus in den allgemeinen Begriffen übereinstimmen, aber auf jeweils ganz anderem Fundament: im einen Fall dem Glaubensfundament, im anderen Fall einem rationalen Fundament. Der humanistische Rationalismus und der vom Glauben her begründete Humanismus haben sich angeglichen und finden heute in Europa ihre gemeinsame Form im liberalen Rechtsstaat. Ob eine Partei das "C" führt, sagt deshalb noch wenig aus. Man muss die Taten betrachten, denn christliche Ethik ist nicht eine rein theoretische oder utopische Vorgabe.

Die christliche Ethik ist eine ausgesprochen praktische, eine "angewandte" Ethik. Es entstehen immer Konflikte zwischen Leuten, die sich mit praktischen Lösungen befassen und solchen, die allein dogmatisch vorgehen. Der Dogmatismus, der bei allen religiösen Bekenntnissen leider immer wieder eine starke Rolle spielt, ist in vielen Fällen hinderlich für eine christliche Politik, welche eigentlich nicht fundamentalistisch sein muss.

Besteht nicht immer eine Spannung zwischen Ideal und Praxis, wenn man zwischen verschiedene Möglichkeiten abwägen muss, um die optimale Lösung zu wählen?
Das ist so und so muss es auch sein. Das Christentum schreibt nicht ein bestimmtes Bild von Politik oder einen bestimmten Staat vor, sondern eine bestimmte Art, an die Probleme heranzugehen, sowie bestimmte wegleitende Werthaltungen. Die christliche Ethik ist nicht ein Ideal, sondern etwas sehr Praktisches. Es wichtig, dies immer wieder zu sagen, denn der christlichen Ethik im Sinne einer praktischen Ethik der Tat kann man nicht so einfach entfliehen, wie man einem reinen Ideal oder einem Dogma entfliehen kann.

Ein Beispiel?
In der Umweltpolitik und in Fragen der nachhaltigen Entwicklung kommt man zu anderen Ergebnissen, wenn man – statt sich primär auf die unmittelbare Macht und den unmittelbaren Wahlerfolg auszurichten - davon ausgeht, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben: jene, die bereits geboren sind und jene, die noch nicht geboren sind, jene, die hier geboren sind und jene, die auf andern Kontinenten geboren sind.

Insofern ist es schon relevant, wie ernst man das Christentum nimmt. Hingegen ist es heikel, wenn ein bestimmtes Parteiprogramm als christlich bezeichnet wird. Christliche Politik im Sinne ganz bestimmter Inhalte gibt es wahrscheinlich nicht. Man kann nicht aus der Bibel eine bestimmte Gesetzgebung oder einen bestimmten Staat ableiten, jedoch eine christliche Politik im Sinne einer bestimmten Methode, einer Gefolgschaft, eines Geistes in Liebe. Auch das Menschenbild wird sich wohl unterscheiden, aber im Begriff der Würde dann wieder übereinstimmen mit dem rationalen Humanismus.

Wie stehen Sie zur bevorstehenden Referendumsabstimmung über die Asylvorlage?
Derzeit diskutieren wir im Rahmen der reformierten Kirche darüber, wie wir uns zur Vorlage verhalten wollen, und wie wir in den nächsten Monaten die Diskussion führen wollen. Ich habe mich noch nicht endgültig festgelegt. Das Gesetz ist einerseits eindeutig schlechter, als es aus christlicher Sicht sein müsste, andererseits eindeutig besser, als es von der politischen Linken dargestellt wird. Es ist nicht nur schlecht, es bringt auch einige Verbesserungen. Es ist nicht nur ein Missbrauchsgesetz, sondern man hat sich ehrlich bemüht, auch an die Rechte jener zu denken, die das Gesetz nicht missbrauchen.

Wenn man von den praktischen Auswirkungen ausgeht, braucht es ein intensives Abwägen. In der Öffentlichkeit jedoch herrscht der Eindruck, dass hier Dogmen gegen Dogmen antreten. Die einen sagen: Wir müssen durchgreifen, deshalb brauchen wir das Gesetz. Die anderen sagen: Wir müssen ein humanitäres Land sein, darum müssen wir das Gesetz ablehnen. Es wird deshalb zur üblichen unheilvollen Polarisierung kommen.

Und was geht dabei verloren?
Untergehen werden die Stimmen der christlichen und der liberalen Mitte, die sich zu spät melden. Die Hauptschuld daran tragen die Exponenten der Mitte jedoch selber, weil sie sich bei der Ausarbeitung der Asylvorlage nicht mit eigenem Profil eingeschalten haben. Die Mitte liess sich von Leuten vereinnahmen, die an die Sache mit ganz anderen Ansätzen herangegangen sind als mit dem christlichen Menschenbild.

Was hat das für Auswirkungen für die Parteien der Mitte wie CVP und FdP?
Sie werden in dieser Abstimmung keine wichtige Rolle spielen. Gefragt werden die Pole sein, die keine Ausgewogenheit wollen. CVP und FdP können noch entscheiden, ob sie der SVP oder der SP hinterher rennen wollen. Was eigentlich nötig wäre, nämlich eine Auseinandersetzung über die christlichen Werte, hat aber nicht stattgefunden. Das Tragische ist, dass sie offenbar auch jetzt nicht stattfindet.

Hülfe da nicht ein besserer Dialog mit den Kirchen?
Was zwischen der Bischofskonferenz und der CVP abläuft, habe ich nicht zu richten; ich gehöre beiden nicht an. Ich bin ja wirklich kein Freund des Klerus. Aber immerhin darf man davon ausgehen, dass diese Leute sich mit dem Problem schon auch vertieft befasst haben. Ich finde es etwas gewagt, wenn von CVP-Seite gesagt wird, man wolle das Verhältnis verbessern und ein gutes Gespräch suchen, aber man dann gleichzeitig zu verstehen gibt: Redet uns ja nicht rein bei dem, was wir zur Sonntagsarbeit und zum Asylgesetz zu sagen haben. Und das Umgekehrte gilt natürlich dann auch wieder bei wichtigen Menschenheitsthemen wie Familie und Stellung der Frauen. Das heisst eigentlich: Man will miteinander ein gutes Verhältnis, aber keinen Dialog.

Was könnte besser gemacht werden?
Ein wesentlicher Aspekt christlicher Politik ist eben, dass man sich nicht auf vorgefasste Positionen festlegt, sondern die Auseinandersetzung im Dialog, also auch im Streitgespräch sucht. Da machen es zur Zeit die Parteien den Kirchen nicht einfach. Umgekehrt machen es die Kirchen den Christen nicht einfach – namentlich dort wo Kirchenvertreter traditionellerweise dazu neigen, von dogmatisch verkündeten Prinzipien auszugehen, statt im Sinne der angewandten Ethik lebenstaugliche Lösungen zu suchen.

Von aussen gesehen ist schon der Eindruck, dass dabei häufig das Bild des gebietenden, verbietenden und strafenden Gottes hervortritt und das andere Bild vom liebenden Gott etwas zu kurz kommt. Man würde in Bereichen wie Familie, Abtreibung und Empfängnisverhütung etwas anders diskutieren, wenn man vom liebenden Gott ausgeht. Wenn man sich stattdessen hinter Dogmen versteckt, so macht man es Politikern, die christlich politisieren möchten, auch nicht leicht.

Hat denn die CVP die nötige Kraft, einen wirklichen Dialog über christliche Politik aufzunehmen?
Nach der Abwahl von Ruth Metzler und der neuen Situation im Bundesrat bestand ja verbreitet die grosse Hoffnung, dass sich die CVP aus dieser Situation erneuern würde. Man erwartete, dass sie versucht, die christliche Kraft der Mitte zu sein – Christentum verlangt in seinem Wesen eine Gleichgewichtspolitik, also Mitte. Aus Sicht vieler Leute hat aber die CVP in neuer Zeit solche Hoffnungen wieder zunichte gemacht, man denke an Fragen wie Umwelt und Nachhaltigkeit, an Verlautbarungen zum Verhältnis zwischen technischen und Geisteswissenschaften, von der Balance zwischen Wirtschaftsleben und Sonntagswürde.

Glauben will man nicht alleine für sich leben, sondern in Gemeinschaft. Ist Glauben nicht ein urpolitischer Vorgang?
Die Trennung von Kirche und Staat und die Trennung von Christentum und Politik sind nicht dasselbe. Trennung von Kirche und Staat als Organisationen ist nötig, Christentum und Politik als Kulturen und Wertsysteme hingegen kann man nicht voneinander trennen. Kürzlich sagte ein Bischof in einer Diskussion, dass das Christentum keine politischen Werte anbiete. Da bin in vollständig anderer Meinung. Christentum befasst sich ebenso wie mit dem privaten auch mit dem öffentlichen Raum. Ob man vom allmächtigen oder allliebenden Gott ausgeht: Er ist in der Öffentlichkeit ebenso präsent wie überall sonst. Ein Rückzug ins Private kann nicht der Weg des Christentums sein.

Für mich als Zwinglianer ist die Vorstellung absurd, dass am Sonntag in der Kirche andere Werte massgebend sein sollen als am Montag im Rathaus. Auch dass man bei der Heirat in der Kirche so tut als sei das Versprechen am Vortag vor dem Standesamt nicht auch vor Gottes Auge gewesen, war mir nie verständlich, aber als Friedenskompromiss aus der Kulturkampfzeit gerade noch akzeptabel.

Was halten sie von der Präsenz christlicher Zeichen im öffentlichen Raum wie etwa Kreuze in Gerichtssälen und Schulräumen?
Es ist durchaus richtig, dass man in unserem Staat solche Kreuze aufhängt und denen, die daran glauben, die Möglichkeit gibt, sich an das Kreuz zu halten. Falsch wäre es jedoch, wenn man dem Lehrer sagen würde, er müsse die Schüler zwingen, davor zu beten. Natürlich bekommen wir in der multikulturellen Gesellschaft damit auch Probleme. Doch wird die Situation gerade für den gemässigten Islam nicht besser, wenn die Christen einfach nachgeben. Wir müssen mit dem Islam leben und lernen, ihn zu verstehen. Dann werden die Muslime auch uns verstehen und in Akzeptanz an unsere Kultur heranwachsen. Sie bringen uns mehr Achtung entgegen, wenn wir von unserer eigenen Sache überzeugt sind. Es ist ja nicht intolerant, wenn man eigene Werte hat.

Als in Paris 1920 die erste Moschee eingeweiht wurde, soll der Pfarrer der Kathedrale Notre Dame gesagt haben: "Gott wird für uns nicht deswegen kleiner, weil nun neben uns auch die Muslime zu ihm beten". Ich möchte beifügen: Meistens waren es nicht die Unterschiede der Religionen, welche Brände entfachten, sondern der Missbrauch der Religionen durch alle Arten von Fundamentalisten.

Datum: 10.02.2006
Autor: Walter Müller
Quelle: Kipa

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