Würde sich Jesus ins Parlament wählen lassen?

Jesus als Bundesrat

Regelmässig zu Wahlzeiten taucht die Frage auf, ob Christen in der Politik mitmischen sollen oder nicht. Und genauso regelmässig wird nach den grossen Wahlsonntagen das Thema wieder verschwinden, um sich pünktlich nach vier Jahren wieder zurückzumelden. Ein Kommen und Gehen ohne viel Veränderung?

Jesus als Politiker

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich verzichte bewusst auf eine Sowohl-als-auch-Argumentation, da ich während meiner eigenen politischen Tätigkeit gelernt habe, dass ich irgendwann mit meiner Stimme klar und deutlich ja oder nein sagen muss. Ja, ich glaube, Jesus würde sich ins Parlament wählen lassen! Und zwar aus folgenden Gründen:

- Charismatische Personen in der Politik werden von den Medien stärker aufgenommen als gut bürgerliche Langweiler.

- Die Christen würden darüber streiten, ob es nun gut oder schlecht ist, dass er - Jesus - im Berner Parlament sitzt.

- Die in einer Demokratie geforderten und notwendigen Integrationsfiguren würden durch niemanden so gut repräsentiert wie durch Jesus. Absolut glaubwürdig: Jesus würde engagiert, glaubhaft, mutig, eindeutig und mit seiner ganzen Person Stellung nehmen zu all den verschiedenen politischen Fragen. Er würde heftigen Widerspruch auslösen und gleichzeitig durch seine bestechende Logik Freunde für seine Argumentation gewinnen. Die Medienleute wären bestimmt hinter ihm her! Sie würden ihn porträtieren, ablichten, interviewen. In all dem Tun würde er keinen Zweifel lassen, dass Menschen ihr Handeln aus der Beziehung zu Gott gestalten sollten. Und dass dies die beste Grundlage für eine gesunde Gesellschaft wäre. Manche Frauen und Männer wären beeindruckt von ihm - denn sein Leben, sein Handeln und sein Reden wären völlig identisch. So etwas hätte die Welt noch nie gesehen!

Christen würden streiten

Jesus würde durch seine Auftritte durchaus auch Christen provozieren. Und Provokation ist ein gutes Stilmittel, um ein neues Bewusstsein zu bilden. Christen und Gemeinden würden an Tagungen, in Verlautbarungen und persönlich darüber streiten, ob Jesus nun ins Parlament gehört oder nicht. Durch diese Konflikte würde beim einen oder bei der anderen ein politisches und evangelistisches Bewusstsein auftauchen. Und irgendwann würden sie erkennen, dass Jesus durch sein Engagement auch persönlichen Zugang zu andersdenkenden Menschen findet. Sie könnten beobachten, wie Menschen über Parteigrenzen hinaus beginnen, Fragen nach Gott zu stellen. Menschen - weit weg vom Christsein - würden eine andere, eine völlig neue Seite des Evangeliums entdecken.

Ideale Integrationsfigur

Viele politische Fragen lassen unterschiedliche Meinungen zu. Gute Vermittler, gute Diplomaten sind rar. Jesus wäre auch in ganz heiklen Fragen fähig, verständliche und nachvollziehbare Antworten zu geben. Er würde sich nicht einfach aufs Evangelium beziehen, indem er irgendwelche Formeln von sich gibt. So nach dem Motto: "In der Bibel steht geschrieben ...". Er würde die Menschen, wie damals Nikodemus, auf ihrer Kommunikationsebene abholen und verständlich an die Inhalte des Evangeliums heranführen. Jesus wäre kein Polterer, aber auch kein Softie. Ihm würde es gelingen, in kritischen Fragen gangbare Wege aufzuzeigen. Im Wissen, dass Menschen trotzdem falsch entscheiden - sozusagen wider besseres Wissen.

Blockierte Christen

Viele Christen sind in ihrem gesellschaftlichen Bewusstsein blockiert durch ihr Engagement in den Gemeinden. Mit einem engagierten Gemeindeglied einen Termin für ein Nachtessen abzumachen erfordert oft soviel Geduld, dass man es lieber gleich bleiben lässt. Ich glaube nicht, dass ein Christ an vier von sieben Tagen sich für die Gemeinde einsetzen muss. Hingegen glaube ich, dass ein Christ an sieben von sieben Tagen Christ zu sein hat. Ein Christ ist ein erlöster Mensch, der einem nichterlösten Menschen den Weg zur Erlösung zeigt. Und das tut er nicht, indem er sich in sein frommes Ghetto zurückzieht und Seelenpflästerli von einer Wunde auf die andere klebt.

Der praktische Einsatz

Vor vielen Jahren haben wir in St. Gallen die EVP (Evangelische Volkspartei) neu gegründet. In der Folge wurden ein Kollege und ich ins Stadtparlament gewählt. Wir waren zwar Greenhörner, aber wir liebten unsere Stadt und wollten etwas für sie tun. Es war zu Beginn nicht einfach. Jedes unserer Statements im Rat wurde jeweils aus der FDP-Bank mit einem lauten und deutlichen "Amen" quittiert. Mit der Zeit beruhigte sich die Situation, und wir konnten unseren Beitrag für das Gemeinwohl leisten. Und offensichtlich taten wir dies gut. Wenn Leute für soziale Aufgaben in der Stadt gesucht wurden, kamen die Anfragen zuerst zu uns. Die anderen Ratsleute bekamen Vertrauen, weil sie uns als seriöse Schaffer kennenlernten - nicht nur in religiösen Fragen. Wir diskutierten auch um Strassenbau, Quartierzonen, neu zu erschliessende Kanalisationen und anderes. Mein Kollege war als Umweltingenieur absolut top. Sein Fachwissen in vielen Baufragen war ausserordentlich geschätzt. Ich war eher fürs Soziale zuständig. Wir scheuten uns auch nicht, klar als Christen aufzutreten, wenn es angebracht war. Nach fünf Jahren verliess ich St. Gallen. Für "Credo 91" organisierte ich damals einen Gebetsmarsch rund um die Schweiz. Das "St. Galler Tagblatt" widmete meinem Engagement eine ganze Seite ohne irgendwelcher zynischer Nebentöne. Und mehrere Politikerinnen und Politiker aus verschiedenen Parteien suchten noch ganz persönliche Gespräche. Und mancher sagte zum Schluss: "Bete bitte auch für mich!" Ich tue das bis heute. Denn ich habe diesen Menschen viel zu verdanken. Nie in meinem Leben habe ich über das Christsein soviel gelernt, wie während meiner politischen Tätigkeit.

Datum: 29.03.2002
Autor: Verena Birchler
Quelle: Chrischona Magazin

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