Paralympics der Musik“: Mit Leib und Seele und ganzem Herzen dabei

Die Jury um Guildo Horn (im Bild mit „Combo“-Sänger Rudi Leiss) wählte die Formation „Die Combo“. Sie dürfen zur Endausscheidung des fünften „Europäischen Songfestivals für Menschen mit geistiger Behinderung“.
Dass Publikum feierte ausgelassen mit.

Bielefeld. Neun Interpreten aus ganz Deutschland wetteiferten um die Gunst von Publikum und Jury. Das Besondere an diesen „Paralympics der Popmusik“, wie der Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Johanneswerks, Udo Krolzik, den Sängerwettstreit bezeichnet: Musiker mit geistiger Behinderung stehen dabei im Mittelpunkt. Und die sind nicht weniger ehrgeizig als etwa die Interpreten, die am ihr Können beim Grand Prix d’Eurovision im lettischen Riga unter Beweis stellten. Die vom Evangelischen Johanneswerk organisierte Veranstaltung moderierte der vom Fernsehen („Die Sendung mit der Maus”) her bekannte Christoph. Die Endausscheidung im Herbst findet ebenfalls in Bielefeld statt

Tolle Stimmung, grosses Publikum auf dem gut besuchten Bielefelder Leinweber-Markt am Sonntag. „Ladies and gentlemen. Das Festival ist eröffnet. Rocken wir los.“ Jochen Schulz fordert die aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten neun teilnehmenden Interpreten des nationalen „Songfestival für Menschen mit geistiger Behinderung“ zum Wettstreit auf. Der Musiker der Band „Allstars“ aus der Werkstatt für Behinderte in Neuendettelsau verstärkt die Jury, der mit Guildo Horn, Bianca Shomburg und Anne Haigis drei Vertreter des deutschen Rock-, Pop- und Schlagerwesens angehören.

„Es kommt darauf an, eine gute Performance abzuliefern“, sagt Jörg Kreinberg. Seit Juli 2000 ist der 24-jährige Rollstuhlfahrer Keyboarder und Sänger bei „Lampenfieber“, einer integrativen Rockgruppe, die in der Lüdenscheider Behindertenwohn-einrichtung „Johannes-Busch-Haus“ entstand. Nicht nur er denkt so. Denn auch bei dem vom Johanneswerk organisierten Festival geht es um etwas.

So ist die Musikveranstaltung im Stadtzentrum auf der Freiluftbühne hinter der Altstädter Nicolaikirche zugleich die nationale Vorausscheidung für das fünfte „European Songfestival“ im Herbst. Das heisst, wer am Ende vor den wachsamen Augen der Jury besteht, die – wie sich das für einen ordnungsgemässen Wettstreit gehört – notariell beaufsichtigt wird, hat am 16. Oktober Gelegenheit, sich in der Stadthalle der Leineweberstadt erneut zu messen. Dann aber im europäischen Vergleich.

„Wir sind heut’ alle gut drauf“ singen die „Mürwiker“

Darum wissen auch die „Mürwiker“, eine zwölfköpfige Band aus Flensburg, deren Mitglieder in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Mit ihrem eingängigen Stück „Wir sind die Mürwiker“, das etwas aus ihrem Alltag erzählt, haben sie das eifrig mitklatschende Publikum bald fest in der Hand. Und als könnte es gar nicht anders sein, heisst es im Refrain „Wir sind heut’ alle gut drauf“.

Gut drauf ist auch Guildo Horn. Seine erste Einschätzung nach dem gelungenen Auftakt: „Da ist Seele dahinter. Feiert schön hinter der Bühne. Trinkt Champagner.“ – Doch das wäre etwas verfrüht. Denn anders als die Sonne, die den Kampf gegen die düsteren Regenwolken des Vormittags klar für sich entschieden hat, hat die Vorausscheidung auf der Freiluftbühne hinter der Nicolaikirche an diesem Nachmittag erst begonnen.

Mit Energie und Liebe rübergerbacht

Nach dem als Sprechgesang mit kräftigen Rhythmen intonierten „Friedenssong“ der Waiblinger Gruppe „Rockdisound“, die mit ihrer aussagekräftigen Eigenkomposition appelliert, den anderen um des Friedens willen trotz seiner Fehler zu akzeptieren, versucht Gerd Haussmann mit der „Neckaraue House Band“ Publikum und Jury mit einem Gassenhauer zu überzeugen. „Ein Bett im Kornfeld“ kündigt Moderator Christoph Biemann („Die Sendung mit der Maus“) an. Wie ein tapsiger Bär wirkt der schwergewichtige Frontmann, wie er so in seinem weissen T-Shirt mit den Armen rhythmisch gestikulierend über die Bühne tapert, um das Publikum in Schwung zu bringen. Der Funke springt über. Das Publikum kommt in Stimmung, geht mit. Doch wie wird die Jury urteilen? Trägt Bianca Shomburgs Ersteinschätzung, dass sie es „mit Energie und Liebe rübergerbacht“ haben, durch?

Technik, Stimme, Klangvolumen, Kontakt mit dem Publikum, Ehrlichkeit sind einige der Beurteilungskriterien, listet der Moderator auf. Kriterien, denen sich auch die „Werkhaus Band“ der Lebenshilfe Bielefeld stellen muss. Die 1998 gegründete Band, in der behinderte und nichtbehinderte Musiker zusammen spielen, hat im April bereits ihre fünfte CD herausgebracht und absolviert in der Region Ostwestfalen-Lippe bis zu 15 Auftritte jährlich, erzählt Thomas Brach nicht ohne Stolz. Der 41-jährige Keyboarder ist zusammen mit dem Gitarristen Jörg Tuletzki der musikalische Kopf der Gruppe. Der gelernte Werkzeugmacher, der wie sein Kollege Tuletzki eine sonderpädagogische Zusatzausbildung gemacht hat und die Behinderten praktisch anleitet, weiss um die Bedeutung der Musik für das Selbstwertgefühl dieser Menschen.

„Die Behinderten singen bei uns nur. Denn viele können weder lesen noch schreiben“, erläutert Brach die Aufgabenverteilung in der zwölfköpfigen Gruppe, deren Repertoire mitt-lerweile 50 selbst erarbeitete Stücke umfasst. Neue Stücke, wie das eigens für den Wettbewerb komponierte „Brücken“, werden per Kassette eingeübt, die jeder bei sich zu Hause ab-hört. Eine erfolgreiche Methode, wie sich die Zuhörer überzeugen können.


Die Sieger waren völlig überrascht vom Jury-Urteil

„Lasst uns viele Brücken bauen, neu an jedem neuen Morgen; Lasst uns über Mauern schauen, was dahinter ist verborgen…“, heisst es im Kehrvers des Liedes. Eine Aussage, die so wohl auch Dirk Wiesmann treffen könnte. Der 40-jährige „Lampenfieber“-Drummer, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, hat auf seine Art schon so manche Brücke gebaut. So strahlt er jedem auf seine gewinnende Art auf den Einladungskarten zum Songfestival zuversichtlich entgegen.

So unbeholfen, wie er sonst sein mag, etwa weil er die fünf Stufen rauf zur Bühne nur mit tatkräftiger Unterstützung zweier Träger bewältigen kann – so ganz und gar in seinem Element ist er, wenn er mit seinem dicken Paukenschläger auf das riesigen bunte Ölfass haut, das rechts unübersehbar in einem eigens angefertigten Holzgestell auf der Bühne steht. An dem von Jurymitglied Jochen Schulz bescheinigten „guten Rhythmus“ der Band, hat er massgeblichen Anteil. Denn wenn er eins hat, dann ist das Rhythmusgefühl. – Und Spass an der Sache.

Das merkt man auch dem einzigen Solisten unter den Festivalteilnehmern, Stefan Brandenburg aus Mönchengladbach, an. Hitverdächtig singt er sein „Dafür leb’ ich, dafür geb’ ich alles, was ich hab’“ in das Mikrofon. Und nicht nur beim Publikum erweckt er bei dieser Mitklatschnummer den Eindruck, dass das aufrichtig gemeint ist. Auch Jurymitglied Anne Haigis ist begeistert: „Ihr macht das mit dem Herzen“.

Mit dem Herzen dabei und am Ende obenauf ist auch „Die Combo“, die mit einem furiosen rockigen Auftritt in Erstaunen versetzt. Jochen Schulz’ anfänglich Aufforderung, loszurocken, haben die vier Offenbacher von den Werkstätten Hainbachtal geradlinig umgesetzt. Nachhaltigen Eindruck hinterlassen besonders Auftritt und Reibeisenstimme von Frontmann Rudi Leiss.

Wie Guildo Horns Spontanäusserung nach dem Auftritt, „Euer Frontmann ist ‘ne echte Rampensau“, zu verstehen ist, zeigt das einhellige Urteil der Jury. „Die Combo“ ist die Band, die Deutschland bei der Endausscheidung im Herbst vertritt, denn sie hat ein „eigenes Lied“ vorgetragen und es ist „komplett handgemacht“, das heisst, ohne bandunterstützte Musik.

Die Bandmitglieder selbst sind völlig überrascht, haben sie doch ihre Instrumente schon weggepackt. Schnell ist für Ersatz gesorgt. Und mit einem kraftvollen „Blues and Rock Out“ werden 600 Besucher nach drei Stunden guter Unterhaltung (Guildo Horn: Herzlichen Dank an alle Musikanten. Ihr seid absolute Granaten) entlassen. Für manchen war es sicher ungewohnt, von Menschen, die er sonst eher als Empfangende kennt, diesmal etwas bekommen zu haben.

Autor: Uwe Herrmann

Datum: 05.06.2003
Quelle: UNSERE KIRCHE

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