Eine Woche in Vietnam

«Ich will Dolmetscherin werden»

Iris Muhl berichtet direkt aus Vietnam. Sie besucht mit einer Mitarbeiterin von World Vision verschiedene Projekte und sendet jeden Tag ihre Eindrücke exklusiv an Livenet.ch.
Vor dem Haus mit Nguyén Thi Minh. Sie besitzt mittlerweile 50 Hühner.

Gestern Abend besuchten wir die Abendschule in Haiphong. Hier können Jugendliche zwischen 14 bis 19 Jahre ihre Matur machen. Die meisten arbeiten tagsüber, und das schon seit ihrer Kindheit. Viele Kinder müssen auch ein Einkommen generieren. Sonst kommt die Familie nicht durch. Wir erfahren von einer Sozialarbeiterin, dass ein durchschnittliches Einkommen rund 800 000 Dong pro Monat (40 Franken) beträgt. Alle in der Familie helfen mit, dieses Einkommen zu verdienen. Die Jugendlichen sind deshalb gewohnt, abends zur Schule zu gehen.  Diese Abendschule wird von der Regierung organisiert. Die Lehrer, die auch schon tagsüber unterrichten, verdienen sich so einen Taschengeld dazu. Wir lernen viele lernwillige, eifrige und vor allem ehrgeizige Jugendliche kennen. Ein Mädchen erzählt vor der Klasse, dass sie Dolmetscherin werden will. Ein anderer Schüler lacht und ruft: «Ich will Schauspieler werden.» Und ein dritter Schüler steht auf und beginnt ein Lied zu singen. Die übrigen Schüler stimmen mit ein und klatschen voller Freude in die Hände.

Als wir uns setzen und der Physikstunde folgen, erleben wir einen lebendigen und kommunikativen Unterricht. Der Lehrer tauscht rege mit seinen Schülern aus. Später erzählt mir Tabea, dass einige der Schüler von World Vision die Hälfte des Schulgeldes erhalten. Ein 16-jähriges Mädchen ist auch unter ihnen. Ihr Name ist Lé Thi Giang und sie möchte einmal Kunst an der Universität von Haiphong studieren. Erst aber schliesst sie ihre Matur ab. Das Mädchen kam in die Gunst der World Vision Hilfe, weil ihr Vater sehr früh verstarb und die Mutter die Kinder verlassen hatte. Die Grossmutter kümmerte sich um ihre Enkelin. Im Moment arbeitet Lé Thi Giang fünf Stunden pro Tag. Ein Teil besteht aus der Mitarbeit im kleinen Coffeeshop der Grossmutter (sie verkauft Waren auf dem Gehsteig). Und der andere Teil besteht aus Fensterputzen in einer Putzfirma. Sie kann nicht nur malen, sie schreibt auch wunderschöne Kurzgeschichten. Einen Wettbewerb im World Vision Write-Contest hat sie schon gewonnen. Das Mädchen ist voller Pläne, scheint begabt zu sein und wird sicher ihren Weg machen, wenn sie die Schule beendet und studiert. Tabea ist sehr glücklich über diese Begegnung. Ihre anfangs dramatische Geschichte hat sich optimal entwickelt. 

Die Zeit drängt, wir müssen weiter. Nun besuchen wir eine etwas ältere Frau mit Tochter. Nguyén Thi Minh hat sich von ihrem Mann getrennt. Wir vermuten, dass er Alkoholprobleme hatte, sie verrät uns aber nur, dass er ein «mentales Problem» hatte. Deshalb hat sie vor einigen Jahren die Hilfe von World Vision in Anspruch genommen. Sie lebt in einer zehn Quadratmeter grossen Blechhütte (zwei Betten, ein Kocher und ein Stuhl) mit ihrer 12-jährigen Tochter und ihrem 14-jährigen Sohn. Die Tochter geht nicht mehr zur Schule. Sie hat wohl den Anschluss verpasst. Sie scheint nicht optimal entwickelt zu sein. Sie legt sich die Hände auf die Augen und lacht, versucht uns zu ärgern und springt immer vom Bett auf den Boden. Tabea erklärt, dass viele unterernährte Kinder sich nicht gut entwickeln. Sie bleiben klein, haben intellektuelle Defizite und werden oft krank. Hun, unser Begleiter von World Vision, übersetzt uns die Geschichte  der Mutter. Sie hat Brustkrebs und ein Darmleiden. Sie ist sehr mager, kauft sich aber Medizin gegen Magenschmerzen. Den Brustkrebs habe sie mit chinesischer Medizin geheilt. Er wachse jetzt nicht mehr. 

Hun hört aufmerksam zu. Er ist nicht nur unser genialer Üebersetzer, sondern ein unglaublich sensibler Zuhörer. Während Tabea und ich gewisse Dinge auf Schweizerdeutsch diskutieren, spricht er mit Mutter und Tochter und stellt eigene Fragen. Die magere Mutter, ich schätze sie auf ca. 35 Kilo, erzählt, dass sie durchaus Medizin bezahlen kann mit dem Geld, das sie mit ihren 50 Hühnern verdient. In einem Business-Kurs bei Hun hat sie gelernt, die Hühner mit Gewinn zu verkaufen. Sie ist erfolgreich und verdient so den Unterhalt. Ihre Tochter aber macht uns Sorgen. Sie sollte eine Schule besuchen oder wenigstens mit Kindern spielen können. «Mental Problems» sagt Hun, der versucht herauszufinden, was das Mädchen für Probleme hat. Offenbar ist auch er ratlos. Sie hat wohl die Schule verlassen, weil sie nicht mehr mitgekommen ist. Das ist hier oft der Fall. Dann sagt das Mädchen, dass sie einen Ausbildungskurs für Möbelschreiner besuchen will. Hun geht darauf ein, er will sich der Sache annehmen und abwägen, was Sinn macht bei dem Mädchen.

Die Mutter erzählt zu unserem Abschied, dass die Regierung einen Teil der Finanzen des Hüttenbaus übernommen hat, den anderen Teil konnte sie selbst bezahlen. Einen Teil bekam sie ebenfalls von World Vision. Wo sie denn vorher gelebt habe, will ich wissen. «In einem Zelt», sagt sie und winkt uns, während sie schon wieder nach dem Hühnerfutter greift.

Dann steigen wir ins Auto und beobachten Hunderte von Honda, Vespa und Yahama-Fahrern. Frauen verkaufen auf der Strasse Maiskolben, Brot, verschiedene Gemüse und Zigaretten. Die Hektik auf der Strasse lässt uns kalt. Wir sind alle nachdenklich. Jetzt besuchen wir noch eine weitere Familie mit einer etwas verrückten Geschichte. Es ist die tragische und zugleich glückliche Lebensgeschichte eines jungen Mannes im Rollstuhl. Diese Geschichte hat uns heute wohl am meisten bewegt. Dazu morgen mehr.

Der erste Tag: Hupen als freundliches Zeichen
Der zweite Tag: Die Boatpeople

Datum: 11.12.2009
Autor: Iris Muhl
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung