Benjamin Müller

Begegnung, Beziehung – Blitzeinschlag

Benjamin Müller
Benjamin Müller, Fachverantwortlicher für Integrationskultur bei Asyl Berner Oberland, unterstützt Geflüchtete. Vor einem Jahr war er selbst plötzlich auf Hilfe angewiesen – mit der grossen Solidarität klarzukommen, forderte ihn heraus.

Kaum drei Monate war Benjamin Müller bei Asyl Berner Oberland tätig, da stieg die Zahl geflüchteter Menschen aus der Ukraine erneut an. Ohne Erfahrung in diesem Bereich verantwortete der Soziokulturelle Animator sogleich den Aufbau einer neuen Kollektivunterkunft. Unter Zeitdruck galt es, in einem ehemaligen Schulhaus Holzwände zum behelfsmässigen Abtrennen von Zimmern für je 20 Personen aufzustellen. Parallel trafen die ersten Bewohner ein. «Ein Ukrainer, der offenbar beobachtet hatte, wie ich mehr schlecht als recht am Werk war, kam auf mich zu, stellte sich als Schreiner vor und fragte, ob er helfen könne», blickt Benjamin Müller zurück. «Das war für mich eine schöne und lehrreiche Erfahrung, denn ich hatte selbst nicht daran gedacht, die Ankömmlinge zu beteiligen.» Er fügt an: «Diese Menschen haben Ressourcen und Potenzial – die Frage ist, ob wir sie aktivieren.»

Singen verbindet

Ein gutes Miteinander, Beziehung und Begegnung sind für Benjamin Müller im Umgang mit den geflüchteten Menschen zentral. Er wolle die Menschen annehmen, die in sein Leben gestellt sind, auch wenn sie vielleicht anders seien als erwartet. Das gemeinsame Singen ukrainischer Lieder, als die Stimmung in der Kollektivunterkunft aufgeheizt war, sei ein solches «Miteinander-Erlebnis» gewesen. «Mit Worten kamen wir in jener Situation nicht mehr weiter, aber die verbindende Aktivität des Singens beeinflusste die Stimmung positiv.»

«Mit Worten kamen wir in jener Situation nicht mehr weiter, aber die verbindende Aktivität des Singens beeinflusste die Stimmung positiv.»

Das Gute im Schwierigen

Für den Umgang mit harten Schicksalen hat Müller zwei Strategien: Zum einen hält er sich vor Augen, dass die Geschichte seines Gegenübers nicht seine eigene ist. Seine Aufgabe sei primär, zuzuhören und manchmal Antworten zu geben. «Wenn ich selbst verzweifle, ist niemandem gedient.» So versucht er bestmöglich, das Gehörte nicht mit nach Hause zu nehmen. Zum anderen entlastet es ihn, schwierige Geschichten deponieren zu können. Da kommt ihm sein Glaube an Gott zugute, dem er im täglichen Gebet alles abgeben kann. Benjamin Müller erlebt: «Inmitten der schlimmen Geschichten finden sich immer auch Perlen – und sei es das Lächeln meines Gegenübers. Darauf will ich fokussieren. Wo Freude ist, wird auch die Integration leichter.»

«Wenn ich selbst verzweifle, ist niemandem gedient.»

Sozialberatung und Beziehungsarbeit

Der dreifache Familienvater aus Uetendorf war lange in der Kirche tätig, zuletzt als Leiter des Sozialdienstes der reformierten Kirche in Thun – im gleichen Gebäude wie Asyl Berner Oberland. «Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, waren hier die Gänge voller geflüchteter Menschen. Das liess mich nicht kalt.» Als Verantwortlicher für die Integrationskultur in den sechs Kollektivunterkünft en im Berner Oberland ist Benjamin Müller zuständig für den Integrationsprozess vor Ort, führt bei Konflikten Gespräche und unterstützt die Zentrumsleiter. Er betont: «Die Menschen stehen im Zentrum. Es geht darum, in die individuellen Lebenswelten einzutreten und gemeinsam zu schauen, welche realistischen Perspektiven in der Schweiz bestehen. Wir wollen die Geflüchteten in ein selbstverantwortliches Leben führen, aber auch keine falschen Erwartungen wecken. Manchmal heisst es auch, Unveränderliches mit ihnen auszuhalten.»

Die aus Sicht der Asylsuchenden oft langen Verfahren und damit einhergehende Unsicherheit seien neben den Sprachkenntnissen eine der grössten Hürden für die Integration, stellt Müller fest. Das drücke mit der Zeit auf die Motivation. Umso bedeutungsvoller sind aus seiner Sicht Begegnungsmöglichkeiten, die oft vom Engagement von Freiwilligen leben. «Niemand will den ganzen Tag in einer Kollektivunterkunft verbringen.» Er nimmt in der Bevölkerung viel Unterstützung wahr, zugleich aber auch Verunsicherung. «Deshalb ist es wichtig, dass es Gefässe gibt, wo Menschen von hier und Geflüchtete einander begegnen. Wir sollen nicht über die Menschen sprechen, die zu uns kommen, sondern mit ihnen.»

«Wir sollen nicht über die Menschen sprechen, die zu uns kommen, sondern mit ihnen.»

Viel verloren und …

Wohl nicht im Geringsten hätte Benjamin Müller geglaubt, plötzlich am eigenen Leib zu spüren, wie es Menschen auf der Flucht ergeht. Es war im wahrsten Sinn des Wortes ein Blitz aus – vorübergehend nicht mehr – heiterem Himmel, der den Müllers an einem Sommertag des letzten Jahres beinahe alles raubte. Innert Kürze stand das Haus in Flammen – und die Familie mit nicht mehr als dem Lebensnotwendigsten in einem Rucksack da. «Ich würde unsere Situation nicht mit jener geflüchteter Menschen vergleichen, denn bei uns ist vieles versichert und ersetzbar – und es gab zum Glück nur Materialschaden. Trotzdem fühlte es sich unmittelbar nach dem Brand so an, als hätten wir viel verloren.»

… viel bekommen

Nachdem seine Frau ihn bei der Arbeit angerufen und informiert hatte, steckte er auf der Heimfahrt im Stau fest. «Ich konnte nichts tun – ausser beten. Das half mir, machte mich ruhig und brachte mich auf den Gedanken, die Zeit zu nutzen, um alle nötigen Personen zu informieren.» Derweil reagierte seine Frau zuhause überaus besonnen, führte die beiden 80-jährigen Frauen, die das Obergeschoss bewohnten, die Kinder und das wichtigste Hab und Gut aus dem Haus.

Auf den ersten Schock folgte die komplette Überforderung: «Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergeht und was zu tun ist, hatte nichts im Griff . Zudem fiel es mir schwer, all die Unterstützung anzunehmen.» Und diese war überwältigend, erinnert sich Müller, der auch in der Notlage einen Blick für das Hoffnungsvolle hat: «Eine solche Solidarität, auch von weniger nahestehenden Menschen, habe ich noch nie erlebt. Dies hat mich sehr berührt.» So konnte die fünfköpfige Familie innert einer Woche im gleichen Dorf in ein anderes Haus ziehen. Und für Benjamin Müller besonders schön: Die Vermieter haben kulturell keinen Schweizer Hintergrund. Und so kam es, dass – ganz unschweizerisch – zunächst nicht die Formalitäten wie Mietvertrag und dergleichen im Vordergrund standen, sondern die persönliche Begegnung, das Kennenlernen, die gemeinsame Zeit. «Und das dauerte …», sagt Müller lachend und mit grosser Wertschätzung.

«Wir stellten Gott unsere Fragen, sprachen aus, was uns ungerecht scheint.»

Die Frage nach dem Warum

Seit einigen Monaten ist die Familie zurück in ihrem eigenen, wiederaufgebauten Haus. Bis es so weit war, führten die Eltern und ihre drei Kinder viele Gespräche und teilten ihre Fragen miteinander. Auch hätten sie versucht, den Kindern nichts vorzuspielen, sondern ihre eigene Ratlosigkeit offenzulegen. «Der Austausch untereinander und mit Gott ist für uns zentral. Auch ihm stellten wir unsere Fragen, sprachen aus, was uns ungerecht scheint.»

Nicht alles hat sich geklärt, dennoch habe das Ereignis ihren Glauben gestärkt. «Wenn plötzlich etwas weg ist, was man für sicher gehalten hat, schärft dies das Bewusstsein für das Unvergängliche. Ich erlebe Gott oft in der Begegnung mit anderen Menschen. Wenn Personen, die mir nicht nahestehen, in der Not einfach da sind, sehe ich darin auch Gott.»

ZUR PERSON

Meer oder Berge?
Beides zu seiner Zeit

Käse oder Fleisch?
Beides auf einer schönen Holzplatte mit einem guten Bier

Altbekanntes oder Neues?
Neues

Glas eher halbvoll oder halbleer?
Halbvoll ist für mich eine erstrebenswerte Perspektive

Heimlich altern oder riesige Geburtstagsparty?
Beides nicht – feiern im kleinen Kreis jedoch sehr gerne

Datum: 25.11.2025
Autor: Daniela Baumann
Quelle: Hope Regiozeitung