Durch Tiefen und Höhen
Schon als Jugendliche lernen sich Stephanie (37) und Michi (40) kennen. Beide engagieren sich in der Cevi-Jungschar, in der Konf- und Jugendarbeit der reformierten Kirche Gossau ZH. Während seines Pädagogik-Studiums erkrankt Michi 23-jährig erstmals an einer Depression. 2001 entscheidet er sich, das Studium abzubrechen. Freunde unterstützen ihn, gehen mit ihm spazieren, halten seine düstere Stimmung aus, beten. Drei Monate später ist er wieder auf dem Damm. Er beginnt ein Studium der sozialen Arbeit. Mit 25 Jahren erlebt er eine zweite Episode. Wieder sind seine Freunde da und unterstützen ihn.
Hochzeit und Tiefschlag
2008 werden Stephanie und Michi ein Paar, die Hochzeit folgt drei Jahre später. 2013 wird Stephanie schwanger. In dieser Zeit erkrankt Michi erneut. «Ich freue mich nicht auf das Kind», gesteht er ihr, «ich fühle überhaupt nichts.» Stephanie kann das Empfinden einordnen. Es gehört zum Krankheitsbild. Sie bittet ihren Mann, professionelle Hilfe und Medikamente zu akzeptieren. Und sie bittet ihr Umfeld und ihre Familie um Unterstützung. Als Michi Suizidgedanken äussert, realisiert Stepha-nie: «Ich kann das allein nicht tragen». Sie besteht darauf, dass er sich hospitalisieren lässt. Berufstätig und hochschwanger hat sie keine Kraft, auch noch einen kranken Mann zu versorgen. Michi geht widerwillig in die Klinik. Nach einem Wochenende zu Hause weigert er sich, zurückzukehren. Sein Schwiegervater unternimmt einen langen Spaziergang mit ihm, die beiden tauschen intensiv miteinander aus. Schlussendlich willigt Michi ein, wieder ins «Schlössli» zurückzukehren.
Ostern persönlich erlebt
Am Karfreitag 2014 überlegt er, wie und wo er sich das Leben nehmen könnte. Zur gleichen Zeit beten junge Leute, die das Paar auf ihrem Glaubensweg begleiten, für ihren Freund. Michi berichtet: «Am Ostersonntag wachte ich auf und die Suizidgedanken waren weg!» Seine Zerrissenheit und die negativen Gedanken sind verschwunden. «Das ist ein Wunder», betont Michi. «Gott hat eingegriff en.» Es vergehen noch einige Jahre, bis er gelernt hat, mit seiner depressiven Veranlagung umzugehen. Stephanie traut der Situation nicht sofort. Doch immer mehr erkennt sie in Michi wieder den Mann, den sie geheiratet hat. Nun freut er sich auch, dass er Vater wird. Knapp drei Wochen später kommt Joel zur Welt, ihr erster Sohn.
Machtlos
«Er ist einfach wunderschön!» Stephanie hält im Herbst 2016 glücklich und dankbar ihr neugeborenes zweites Söhnchen im Arm: Eneas. Als sie später den Inhalt seiner Windel betrachtet, schiesst der Pflegefachfrau ein Gedanke durch den Kopf: «Das sieht aus wie bei einem CF-Kind…» Sie schiebt die Vorstellung zur Seite. Als der Kleine sieben Tage alt ist, erhalten sie einen Anruf des Kinderspitals Zürich. Das Neugeborenen-Screening sei auffällig, sie müssten zur weiteren Abklärung ins Kispi.
Michi erfährt von einem Freund, dass 80-Prozent der Folge-Tests ein negatives Resultat ergeben, die vermutete Diagnose also widerlegen. «Ich bin gut im Verdrängen», sagt er bestimmt. «Ich vertraute darauf, dass unser Kind gesund sein würde.» Seine Frau ahnt, dass dem nicht so ist. Eines von 2'500 Kindern erhält jedes Jahr die Diagnose Cystische Fibrose. Viele Menschen beten für die Familie. Stephanie fühlt sich vollkommen machtlos: «Die 35 Stunden zwischen Schweisstest und Gespräch mit dem Arzt waren die längsten und schlimmsten meines Lebens.» Dann bestätigt sich der Verdacht.
Warum wir nicht?
Eneas, ihr zweiter Sohn, ist von Cystischer Fibrose betroffen. Stephanie und Michi sind zutiefst erschüttert. Die junge Mutter arbeitet selbst im Kinderspital Zürich, berät dort Familien mit kranken oder Kindern mit Behinderung. «Nun gehören wir zu ihnen. Wir sind nicht bessere oder schlechtere Eltern», stellt Stephanie klar. «Niemand hat das Recht auf ein gesundes Kind». Angehörige, Freunde und Nachbarn stehen der Familie zur Seite. Sie bringen Essen vorbei, hüten den älteren Sohn Joel, sind einfach da, beten.
Was ist lebenswertes Leben?
Das «Warum?» bereitet Stephanie wenig Mühe, Gott selbst als «liebender Vater» hingegen sehr. Viele der Glaubensgrundsätze, die sie bisher vertrat, zerfallen wie Staub. Auch die Bibel hilft ihr nicht weiter. Einzig und allein, dass Gott existiert, bezweifelt Stephanie nicht. Dazu kommt die Unsicherheit bezüglich weiterer Kinder. Geschwister haben ein Risiko von 25 Prozent, ebenfalls von CF betroffen zu sein. Die Frage «Habt ihr es denn nicht gewusst?» und der Tipp: «Man kann ja abtreiben, wenn das Kind nicht gesund ist…», verletzten Stephanie. Sie ist enorm verunsichert, macht sich viele Gedanken, redet mit ihrer Familie und Freunden. Sie liest Bücher zum Thema Leid, zum Beispiel «Über den Schmerz» von C.S. Lewis, will wissen, wie andere mit solchen Situationen umgehen.
Jesus am Kreuz
Der Anblick des leidenden Jesus am Kreuz in katholischen Kirchen hatte die reformierte Pfarrerstochter immer wieder gestört: «Er ist doch auferstanden! Weshalb dann sein Leid so zur Schau stellen?!» Doch jetzt, als sie selbst so leidet, um Antworten ringt, erkennt sie den anderen Aspekt am Kruzifx. Es tut ihr gut zu sehen, dass auch Jesus gelitten hat. Die Diagnose ihres Kindes schmerzt untröstlich und die Entscheidung bezüglich weiterer Kinder zermürbt Stefanie. Das Leiden von Jesus vor Augen zu haben, tut ihr nun gut. Es bringt ihr Gottes Sohn, der den Tod überwunden hat, näher.
Jedes Leben wertvoll!
Dürfen wir eine weitere Schwangerschaft wagen? Sollen wir es drauf ankommen lassen? Müssen wir verhindern, nochmals ein krankes Kind zu bekommen? … Auch Michi macht sich viele Gedanken über die weitere Familienplanung, fragt sich mit seiner Frau: «Misst sich der Wert des Lebens daran, dass man etwas erreicht? Muss man gesund sein und alt werden, damit das Leben als lebenswert gilt?» Beide kommen zum Schluss, dass jedes Leben seinen Wert hat. Stephanie spürt: «In jedem Menschen lebt dieser göttliche Funke. Ob lang oder kurz, gesund oder krank – jedes Leben besitzt einen unveräusserlichen Wert.»
Kein Grund zur Scham
Das ema Depressionen behandeln Michi und Stephanie seit Beginn sehr offen: «Es ist eine Krankheit, kein Grund, sich zu schämen», betont die Pflegefachfrau. Michi nimmt regelmässig Antidepressiva und achtet auf einen guten Ausgleich. Sechs Jahre lang ging er seiner Veranlagung mit einem Psychotherapeuten auf den Grund. Seit acht Jahren hat er keinen Rückfall mehr erlebt. «Ich weiss jetzt, wer ich bin, und was ich will», erklärt er. «Ich habe meinen Platz gefunden». Michi hat sein Pädagogikstudium wieder aufgenommen und arbeitet 70 Prozent als Sekundarlehrer, Stephanie zu 50 Prozent als Pflegefachfrau.
Aller guten Dinge ...
Vor drei Jahren hat Töchterchen Charis die Familie von Orelli erweitert. «Ich habe erst im Nachhinein erfasst, wie gut ihr Name passt», erklärt Stephanie. «Charis bedeutet Gnade». Dass sie drei Kinder haben dürfen, ist für Michi und Stephanie mehr als ein Geschenk: «Es ist pure Gnade, unverdientes Glück!»
Medizinische Fakten
20 Prozent der Bevölkerung erkranken einmal im Leben an einer Depression. Hoffnungslosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, anhaltende Traurigkeit oder die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, sind Symptome. Die meisten depressiven Phasen vergehen nach einigen Monaten, Therapien und Medikamente helfen dabei und beugen weiteren Episoden vor.
Cystische Fibrose (CF)
CF wird durch einen Gendefekt verursacht und vererbt. Sie betrifft den ganzen Körper, am stärksten Lunge und Bauchspeicheldrüse. Der Salzaustausch funktioniert nicht, die feine Schleimschicht auf der Lunge ist zu zäh. Viren und Bakterien bleiben hängen, das Risiko für Lungenentzündung und nachhaltige Lungenschädigung ist hoch, die Lebenserwartung eingeschränkt: 50–60 Jahre. Die Therapie: Regelmässiges Inhalieren und ärztliche Kontrolle, tägliche Einnahme von Medikamenten und Vitaminen, bei Infektionen frühzeitig Antibiotika.
Datum: 24.04.2023
Autor:
Mirjam Fisch
Quelle:
HOPE-Regiozeitungen