Vergebung ist Erlass der Schuld und Aufhebung ihrer Folgen
Für Vergebung steht im Urtextd áphesis. Dieser Ausdruck stammt aus dem Schuldrecht und bedeutet: Erlass der Schuld. So lautet auch die fünfte Bitte: »Erlass uns unsere Schulden, wie wir erlassen haben unsern Schuldnern.«Eine Schuld erlassen, heisst: sie überhaupt aus der Welt schaffen. Der königliche Herr im Gleichnis streicht von den zehntausend Talenten nicht einige Hunderte oder Tausende; er streicht die ganze Summe auf einmal. Vergebung bedeutet nicht Ablass von der Schuld, sondern Erlass der Schuld. Ist die Schuld aufgehoben, so sind gleichzeitig alle Folgen der Schuld aufgehoben.
Der zahlungsunfähige Schuldner kam ins Gefängnis; war die Schuld bezahlt oder erlassen, so war er wieder frei; wird ihm ausnahmsweise die Schuld von neuem angerechnet, so kommt er aufs neue in den Schuldturm. Das finden wir Zug für Zug im Gleichnis vom Schalksknecht.**
Der Mensch, der Gott die Liebe und Ehrfurcht schuldig bleibt, wird dahingegeben unter die Gewalt dämonischer Mächte (die »Peiniger«, Matth. 18,34). Ganze Völker und Zeiten werden um ihrer Schuld willen dahingegeben in den Frondienst unreiner Leidenschaften, in die Enge und Oberflächlichkeit eines entgöttlichten Lebens (Röm. 1) oder in den Unfrieden einer heuchlerischen Frömmigkeit (Röm. 2).
Das nennt Paulus den Zorn Gottes.* Er versteht darunter eben die Tatsache, dass Gott sich von eigenwilligen Menschen abwendet, sie ihre eigenen Wege gehen lässt und sie dem Einfluss der Mächte überlässt, denen sie selbst ihr Ohr geliehen haben.
Vergebung macht frei
Kommt die Vergebung (der Erlass), so ist mit einem Schlag der Bann gewichen, die Türen des Gefängnisses sind geöffnet, und der frühere Schuldner kann heraus.Und noch viel mehr: Nicht nur die Gefängnistür steht offen zum Heraustreten, auch die Tür des Vaterhauses ist geöffnet zum Eintreten. Der schuldige Sohn darf heimkehren; es ist ihm nun unverwehrt, in der nächsten Nähe des Vaters zu leben, teilzuhaben an allen väterlichen Gütern. Er wird wieder ein Freund und Mitarbeiter des Vaters, ein Eingeweihter und Teilhaber an seinem Werk (Luk. 15).
Ist die Schuld vergeben, so ist das ursprüngliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt. Was erlassen ist, existiert nicht mehr. Es ist jetzt gar kein Grund mehr dafür vorhanden, dass der Mensch noch immer weiter gefangen, noch immerfort getrennt sein sollte von seinem Gott.
Es ist eine ganz unevangelische Vorstellung von der Vergebung, wenn man meint, sie bestände bloss darin, dass Gott die Schuld ignoriert oder bei sich nicht mehr bucht oder dass er von Mal zu Mal unserem Gewissen Entlastung gibt vom Druck einzelner begangener Sünden, wobei dann im Leben des Menschen eigentlich alles so bliebe, wie es war.
Nichtanrechnung im Alten Testament - Vergebung und Wegnahme der Schuld im Neuen Testament
Von solch einer Vergebung wusste das Alte Testament. Da bedeutet Vergebung gleichsam Ablass, das Nichtanrechnen der gesamten Schuld, die »unter der Geduld Gottes blieb« (Röm. 3,25), und die Befreiung des Gewissens von der Last bestimmter Vergehen, wobei im übrigen das Leben des einzelnen wie der Gemeinde ebenso gottfern blieb, wie es gewesen war.Die Propheten des Alten Testaments haben es klar erkannt, dass diese Vergebung nur ein Schatten der kommenden war. Sie verkündigen darum den bevorstehenden neuen Bund, der die richtige Vergebung, den vollkommenen Erlass der Schuld bringen wird (Jen 31,34; 50,20).
Und hier im Neuen Testament bedeutet Vergebung der Sünde: Wegnahme der Sünde. »Siehe da, Gottes Lamm, welches wegnimmt die Sünde der Welt« (Joh. 1,29 Urtext).
Die Vergebung sprengt den Schicksalsraum entgöttlichter Lebensverhältnisse
Es handelt sich dabei nicht nur darum, dass beim einzelnen das beseitigt wird, was in seinem persönlichen Lebenslauf trennend zwischen ihn und seinen Gott getreten war. Es werden auch die Berge von Schuld beseitigt, die sich im Lauf der Geschichte eines Volkes, einer Kirche angehäuft hatten.Gerade das ist im Jeremiawort vom neuen Bund in Aussicht gestellt: Alles, was sich an Ungutem fortgeschleppt hatte wie ein Fluch von Geschlecht zu Geschlecht, das ist jetzt aufgehoben. Im Neuen Testament macht die Vergebung reinen Tisch mit allem: mit dem Einstigen ebenso wie mit dem Jetzigen. Alles, aber auch alles, was der Rückkehr in die unmittelbare Gemeinschaft Gottes im Wege steht, fällt dahin.
Die Vergebung der Sünden räumt auf mit dem Schutt der Jahrhunderte. Sie entgiftet die Atmosphäre vom Dunst der Vorzeit und der Jetztzeit. Sie macht frei von Vorurteilen und Unsitten, von den Fesseln der Tradition und der Vererbung. Sie bleibt nicht auf halbem Wege stehen: sie greift zurück bis zur Schöpfung.
Vergebung ist Einbruch von oben; es gibt keinen Durchbruch von unten nach oben
Indem das Evangelium die Vergebung ankündigt, sagt es radikal nein zum Unterfangen einer Mystik, die von unten her durch Höchststeigerung menschlicher Seelenkräfte den Bannkreis des göttlichen Verhängnisses durchbrechen will.Was von oben her verhängt ist, kann nur von oben her durchbrochen werden. Bei den höchsten Wonnen der Ekstase bleibt der Mystiker doch immer, wo er war: in den Zuständen dieses Äons.
* Siehe auch den Artikel zu «Zorn Gottes».
** Matthäus 18,21-35
Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch